Dröhnend schallte die Musik des Clubs in die VIP-Lounge, ehe die Tür wieder geschlossen wurde. Nur noch das dumpfe Wummern der Bässe erinnerte die kleine Gruppe daran, dass sie sich in einer sich füllenden Diskothek befanden. Das Licht war gedämpft und wurde beinah von den dunkelroten Wänden und dem schwarzen Teppich geschluckt. Der dezent dekorierte Raum verbreitete eine heimische Atmosphäre.
Taluna zupfte an ihrem türkisfarbenen T-Shirt und nippte an ihrem Sektglas. Immer wieder wanderte ihr Blick zu der kleinen Theke, auf der ihr Foto und die Zeitschrift mit dem Artikel über sie lagen. Kathys Party hatte kurz vor zehn Uhr begonnen. Ihre Freundin hatte sich viel Mühe gegeben. Sie hatte sogar Ty davon überzeugen können, für Gloria eine Ausnahme in seinem Club zu machen.
„Wenn das jemand mitkriegt, dreh ich euch den Hals um", hatte er nach der Begrüßung der VIP-Gäste gebrummt und Gloria mit zusammengekniffenen Augen angefunkelt.
Diese hatte kokett gelächelt, sich bei Ty untergehakt – der mindestens dreißig Zentimeter größer und wohl auch breiter als sie war – und mit lieber Stimme geflötet: „Keine Sorge Ty. Außerdem kannst du mich nicht einschüchtern." Sie warf einen verstohlenen Blick in Kathys Richtung, die fröhlich mit Mara plauderte. „Kathy erzählt mir zu viel über deine wirklich liebenswerten Eigenschaften."
Ty seufzte resigniert und tätschelte Glorias blasse Hand, die auf seinem gebräunten Unterarm einen interessanten Kontrast bildete. „Furchtbare geschwätzige Weiber. Ihr redet mir meinen guten Ruf kaputt." Glorias haselnussbraune Augen hatten nur belustigt gefunkelt, ehe sie sich von Ty gelöst und die anderen begrüßt hatte.
Verstohlen lächelte Taluna in sich hinein, als sie sich an das Gespräch erinnerte. Denn die Ausnahme, die Ty für Gloria gemacht hatte, war wirklich ungewöhnlich. Denn normalerweise durften ins „An Imal" nur Nairi. Es war ein spezieller Club für Gestaltwandler, in den keine Menschen eingelassen wurden. Was nichts mit Rassismus zu tun hatte – es gab ebenso Clubs, die nur von Menschen besucht werden durften.
Da es abgeschafft worden war, für Nairi extra Ausweise anzufertigen, hatten sich die Türsteher etwas anderes einfallen lassen: Sie forderten jeden vor dem Eingang auf, die rechte Hand zu verwandeln. Wer das nicht konnte, durfte nicht rein. Und da sie sich heute den ganzen Abend in diesem separaten Raum aufhalten würden, würde auch niemand Glorias verräterischer Geruch auffallen. Kathy hatte Glorias Sachen für heute Abend extra den ganzen Tag im Club gehabt. Dadurch war der Duft nach Mensch beinah völlig untergegangen.
Unvermittelt breitete sich auf Talunas Gesicht ein breites Lächeln aus, als ihr ein anderer, nur zu vertrauter Geruch in die empfindliche Nase stieg. Schnell stellte sie ihr Sektglas auf einen Tisch und ging mit langen Schritten auf die Tür zu. Nur Augenblicke später öffnete sie sich und ließ – zusammen mit einem Schwall lauter Musik und fremden Aromen – einen schlanken Mann herein, dessen kurze Haare schneeweiß leuchteten. Als er Taluna entdeckte, hellte sich sein düsteres Gesicht sofort auf und sein Lächeln erreichte seine nachtschwarzen Augen.
„Hi Luna", sagte er mit rauchig tiefer Stimme, die von zu viel Whisky und Zigarren geformt worden war. Taluna ging zu ihm und umarmte ihn herzlich. Da er nur wenige Zentimeter größer war als sie selbst, konnte sie bequem ihr Kinn auf seine Schulter legen.
An seinem Hals flüsterte sie: „Ich schwör dir Max, wenn du noch einmal so lange wegbleibst, beiß ich dir ein Ohr ab."
„Alles leere Versprechungen", murmelte er in ihr Haar und erwiderte ihre Umarmung. Auch die anderen Gäste hatten den Neuankömmling bemerkt und kamen, um ihn zu begrüßen. Nur widerwillig löste sich Taluna von Max, als Kathy sie unsanft wegschubste.
„Schreckliches Weib. Mach Platz, damit ich dieses Scheusal von meinem Zwillingsbruder auch begrüßen kann", sagte sie, lächelte Taluna dabei aber an. Diese störte sich schon lange nicht mehr an Kathys Sticheleien – sie waren längst zu einem festen Bestandteil ihrer Freundschaft geworden. Und Taluna genoss es regelrecht, mit ihrer besten Freundin kleine Gemeinheiten auszutauschen.
Liebevoll drückte Kathy ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange und nahm ihn wie Taluna fest in den Arm.
„Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist."
„Wie hätte ich noch länger wegbleiben können, wenn unsere kleine Luna hier zu einer Berühmtheit wird?", sagte Max und zwinkerte Taluna an.
Diese grinste nur und meinte: „Du willst dich doch nur in meinem Ruhm sonnen. Aber trotzdem freut es mich, dass du wieder da bist."
Max zwinkerte ihr zu und verschwand hinter einer breiten Wand, als Ty ihn in den Arm nahm. Auch die anderen umarmten ihn und hießen ihn willkommen. Unter all den verschiedenen Gesichtern fiel die Ähnlichkeit zwischen Kathy und Max besonders stark auf. Wie die meisten Nairigeburten waren auch die beiden Zwillinge – zweieiige Zwillinge. Wie bei den Tieren in der Natur war es nicht ungewöhnlich, das Nairi mindestens zwei Kinder zugleich bekamen. Jedoch waren eineiige Zwillinge genauso selten wie bei den Menschen.
'Wie ich und Laurie', dachte Taluna und wäre fast in Tränen ausgebrochen. Ihre Schwester und sie hatten sich ebenfalls den Platz im Mutterleib geteilt. Erinnerungen überfielen sie ohne Vorwarnung. Für sie war Max nicht einfach nur der geringfügig ältere Bruder ihrer besten Freundin. Nein, er war sehr viel mehr. Sie liebte ihn, wie sie Kathy liebte. Als ihre Mutter und ihre Schwester verschwunden waren, hatten diese beiden zusammen mit Nora Taluna vor einem vollkommenen geistigen Zusammenbruch gerettet.
Es war Nora gewesen, die die beiden Kinder damals in ihr Haus geholt hatte, damit sie ihr kleines Mädchen wieder aus ihrem Zimmer herauslocken. Und nach einigen beharrlichen Versuchen über Wochen hinweg hatten Kathy und Max Taluna tatsächlich aus ihrem Schneckenhaus geholt. Nora vermutete noch heute, dass Kathy wegen Taluna Psychologin geworden war. Sie hatte ihrer Freundin unbedingt helfen wollen, als ihre Seele so krank war.
Taluna bedauerte es, dass Max nicht mehr so oft nach Heyton kam. Er betrieb Handel mit teuren Genussmitteln. Ein Grund, warum er immer nach kubanischem Tabak und schottischem Alkohol roch. Doch durch diesen Beruf war er gezwungen, oft zu reisen. Doch den Schneeleoparden störte das nicht. Und Taluna wusste, dass er trotz seiner Reiselust immer wieder in seine Heimatstadt zurückkehren würde.
Taluna verbannte die trüben Gedanken aus ihrem Kopf, dass wenigstens einige Menschen zu ihr zurückkommen würden. Ein warmes Gefühl vertrieb die Schatten der Vergangenheit. Es brachte sie nicht weiter, jetzt darüber nach zu denken. Außerdem hatten sie zu feiern. Taluna war Gewinnerin eines landesweiten Wettbewerbs. Da war kein Platz für Einsamkeit. Einsamkeit konnte sie sich für später aufheben.
'Heute Nacht bin ich sicher nicht allein.'
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Love Me Wild
WerewolfIn einer modernen Welt leben Menschen und Gestaltwandler friedlich zusammen. Scheinbar. Die junge Panther-Wandlerin Taluna gerät mitten hinein in einen Konflikt, der seit Jahren unter der Oberfläche brodelt. Nur der Leoparden-Wandler Cian kann ihr h...