Eigentlich war alles wie immer, wenn es Abendessen gab. Der Tisch war gedeckt, es roch verführerisch und Nonna wartete bereits auf sie. Jedoch fehlte die heimelige Atmosphäre, als Taluna die Küche betrat. Taluna hatte einige Zeit gebraucht, bis sie aus dem weiten Nachthemd geschlüpft war, in das sie irgendjemand während ihrer Ohnmacht gesteckt hatte. Ihr rechter Arm bereitete ihr höllische Schmerzen und sie hatte sich zusammennehmen müssen, um nicht ununterbrochen zu fluchen. Letztendlich hatte sie es geschafft, sich ein T-Shirt und eine Short anzuziehen.
Jetzt wünschte sie sich, sie hätte noch länger gebraucht. Am Tisch saß nicht nur Nora, sondern auch der blonde Mann vom Morgen. Seine goldbraunen Augen sahen sie aufmerksam, aber distanziert an. Erschreckende Parallelen wurden Taluna bewusst – sie kannte die Gesichtszüge dieses Mannes Mitte vierzig: Von ihrer Schwester Laurie. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich an den Tisch setzte. Pixi strich schnurrend um ihre Beine.
„Lass dich durch meine Anwesenheit nicht aufhalten, du solltest etwas essen", sagte er mit angenehm tiefer Stimme. Taluna meinte, etwas wie Sehnsucht oder Schmerz über sein Gesicht huschen zu sehen, war sich aber nicht sicher. Während Nora ihre Teller füllte, ließ sie den Mann nicht aus den Augen.
„Sie sind also mein Vater?", fragte Taluna schließlich.
„Ja."
„Und wegen Ihnen haben mich diese Irren verschleppt?"
„Ja."
Nora schnaubte ungehalten. „Jetzt sitz nicht so dumm da Victor, erzähl es ihr", fauchte sie regelrecht und bedachte den Nairi mit strengem Blick. Der Mann – Victor, ihr leiblicher Vater – atmete tief ein und wieder aus.
„Vor knapp dreißig Jahren lernte ich deine Mutter kennen."
„Deine Mutter musste ich auch zwingen", murrte Nora, ehe sie zu essen begann. Obwohl Taluna sich wie ausgehungert fühlte, interessierten sie die Spaghetti auf ihrem Teller nicht so sehr wie Victors Erzählung. Nur am Rande fragte sie sich, warum er das Jahr ihres Kennenlernens noch einigermaßen wusste. Waren Männer in diesem Punkt nicht äußerst vergesslich?
„Damals hatte ich lediglich einen Schreibtischjob bei Phönix. Das änderte sich jedoch, als unser damaliger Vorgesetzter ermordet worden war. Weil niemand sonst geeignet war, bin ich an seine Stelle gerückt." Er stieß ein freudloses Lachen aus. „Und ich war nicht scharf darauf." Schatten der Vergangenheit huschten über sein Gesicht und Taluna fühlte Mitleid, obwohl sie es nicht wollte.
„Als Elena mir sagte, dass sie schwanger ist, musste ich einen schweren Entschluss fassen", fuhr er fort. „Ich wusste genau, was der Preis für ein Privatleben war – aber den wollte ich nicht zahlen."
Victor sah zu Nora, die ihre Gabel sinken ließ. „Wir haben lange diskutiert, deine Tochter und ich. Elena wäre bereit gewesen das Risiko einzugehen, aber nicht mit zwei kleinen Kindern."
„Du hast sie verlassen", beharrte Nora und klang verletzt. Taluna wunderte es nicht, denn ihre Großmutter würde selbst Pixi bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.
„Ja, ich habe sie verlassen. Aber ist dir nur einmal in den Sinn gekommen, das ich es nicht freiwillig getan habe?"
Taluna stutzte. So viel wusste sie von Cian, sein Vorgesetzter war kein besonders sentimentaler Mann. Dennoch sprach aus seiner Stimme Schmerz und Gramesfalten waren auf seinem Gesicht zusehen. Taluna verspürte das unsinnige Bedürfnis, seinen Kummer zu tilgen.
Nora atmete zitternd ein. „Du musst dich nicht gegen über mir rechtfertigen."
Goldene Augen richteten sich auf Taluna. „Als du in der zweiten Klasse warst, hast du einen Buchstabierwettbewerb gewonnen. Du hast dich schon früh in der Kunst-AG engagiert. Deinen Abschluss hast du mit Auszeichnung bestanden."
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Love Me Wild
WerewolfIn einer modernen Welt leben Menschen und Gestaltwandler friedlich zusammen. Scheinbar. Die junge Panther-Wandlerin Taluna gerät mitten hinein in einen Konflikt, der seit Jahren unter der Oberfläche brodelt. Nur der Leoparden-Wandler Cian kann ihr h...