36 ~ Ein Licht verlöscht

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'Nein, nein, nein, nein, nein, nein...'

Wie ein endloses Mantra kreiste dieses Wort durch Jakes Gedanken. Mit zitternden Händen öffnete er die hintere Tür des Wagens und spähte hinein. Wie durch Watte nahm er wahr, dass die Nairi einen der Männer anschrie, er solle einen Krankenwagen rufen. Jakes Augen sahen das Blut, sein Gehirn konnte es jedoch nicht verarbeiten.

„Daddy", wimmerte sein Sohn und sah ihn aus schreckgeweiteten Augen an. „Mir tut mein Bauch so weh."

Vorsichtig nahm Jake Owen und legte ihn behutsam auf den Rücksitz. Aus einem unscheinbaren Loch im Pullover des Jungen quoll Blut, sickerte durch die kleinen blassen Hände, die sich darauf drückten. Der Schock hielt die schlimmsten Schmerzen von ihm fern und Jake hoffte, dass das so bleiben würde.

Die restlichen Kugeln, die Fiona Hopps abgefeuert hatte, hatten die Scheiben zertrümmert und waren in die Polsterung der Sitze eingedrungen.

'Warum hat es ihn erwischt?', fragte sich Jake und verfluchte Gott. Fiona hatte nicht sehen können, wo das Kind gesessen hatte, denn die dunklen Scheiben hatten das Wageninnere nach außen nicht preisgegeben. Wieso hatten nicht alle Kugeln ihr Ziel verfehlen können? Warum musste ein Geschoss in die Eingeweide seines Fleisch und Blut einschlagen?

Zittern strich Jake dem Kind über die dunklen Haare. „Keine Sorge mein Sohn, alles wird gut", versprach er und lächelte matt. Er hatte zu viele Sterbende gesehen, zu viele tödliche Verletzungen – seine Erfahrung sagte ihm, dass sein Sohn verloren war. Der kleine Körper würde mit dem hohen Blutverlust nicht zurechtkommen, das Herz schlug schon jetzt zu schnell und unregelmäßig. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war dem geliebten Menschen beizustehen und ihn in seinen letzten Minuten nicht allein zu lassen.

„Kann ich helfen?", fragte hinter ihm eine Frauenstimme. Jake schüttelte den Kopf. Er wusste, dass es Taluna Giordano war, die hinter ihm stand und sein sterbendes Kind beobachtete. Eigentlich hätte er sie hassen müssen, weil sie lebte und das junge Leben von ihm gerade erlosch. Er hätte sie hassen müssen, weil er ihr Leben leichtsinnig für das seines Sohnes gerettet hatte.

Paradoxerweise empfand er eine seltsame Befriedigung, weil er wusste, dass er das richtige getan hatte.

„Der richtige Weg ist nur selten der einfache", hatte seine Frau gesagt, als er den Entschluss gefasst hatte, bei PH aufzuhören.

'Marie, es tut mir so leid. Ich konnte unseren Sohn nicht beschützen', dachte Jake gequält. Owen seufzte, seine Augen schlossen sich flatternd und sein Vater küsste seine kalte Stirn.

~

„Kann ich helfen?", fragte Taluna und ihre Stimme zitterte. Ehe sie zu der offenen Autotür gehen konnte, hielt Cian sie sanft zurück. Als sie ihn aus großen Augen ansah, schüttelte er lediglich den Kopf.

„Aber das Kind", flüsterte sie und sah den Mann an, der mit seinem Rücken zu ihnen stand. Flaps klappte sein Handy zu und informierte Banks leise, das ein Krankenwagen und ein Team von Phönix unterwegs wären.

'Das Aufräumkommando', dachte Cian und ihm lief ein Schauer über den Rücken.

Jedoch hielt er sich nicht lange mit diesen Gedanken auf, sondern legte seine Arme fest um Talunas Körper. Sie zitterte leicht und er bildete sich ein, sie hätte an Gewicht verloren.

'Aber sie lebt', jubilierte er.

„Walker, lassen Sie das Mädchen los", verlangte Banks neben ihm streng. „Ihr Arm ist verletzt, die Blutung muss gestoppt werden." Widerstrebend ließ Cian von der Nairifrau ab. Ihr Arm war von Fiona Hopps Kugel gestreift worden und das Blut tropfte bereits von ihrer Hand.

Unvermittelt sank Taluna in sich zusammen. Cian fluchte und fing sie rechtzeitig auf. Scheinbar gelassen fühlte Banks ihren Puls und sagte: „Sie ist ohnmächtig."

Während Cian sie auf die Arme nahm, wickelte sein Vorgesetzter einen breiten Stoffstreifen um die offene Wunde. Das schwarze Fell war von ihrer Haut verschwunden und sie wirkte blass und ungesund. Der Kater in Cian drängte ihn, sie zu packen und in sein Haus zu tragen. Es wurde Zeit, dass sie sie nach Hause brachten.

~

Etwas Nasses, Raues strich warm über Talunas Wange und holte sie langsam aus ihrem Schlaf. Kurz bevor sie die Augen aufschlagen wollte, bremste sie ihr Unterbewusstsein.

'Du bist immer noch gefangen, wach lieber nicht auf', warnte sie eine misstrauische Stimme. Verwirrt runzelte Taluna die Stirn. Sie fühlte keinen harten Boden unter sich, sondern lag bequem unter einer Decke.

'Vielleicht bist du aber auch tot', unkte eine andere Seite ihrer Persönlichkeit.

Beharrlich rieb sich warmes Fell an Talunas Hals und ein konstantes Schnurren setzte ein.

„Pixi", murmelte sie und ihre Kehle fühlte sich an wie ausgetrocknet. Dämmriges Licht begrüßte sie, als sie vorsichtig die Augen aufschlug. Zuerst konnte sie ihren Aufenthaltsort nicht zweifelsfrei bestimmen – die Wände und die Decke kamen ihr vage bekannt vor.

'Ich bin daheim', geisterte es durch ihren benebelten Verstand. Augenblicklich schob sich ein Katzenkopf in ihr Blickfeld und das Tier miaute vernehmlich.

Ihre Hand fühlte sich schwach an, als sie begann Pixi hinter den Ohren zu kraulen. Erschöpft schloss Taluna wieder die Augen, dieses Mal jedoch mit einem Lächeln. Sie war also nicht tot, sondern immer noch am Leben. Ein Blick auf die Wanduhr verriet, dass es bereits halb neun Uhr war – den Lichtverhältnissen nach abends.

Bildfetzen geisterten durch ihr Gehirn: Leichen im Licht der aufgehenden Sonne, dann ein weißes Zimmer und der Geruch von Krankenhaus. Vage war sie sich bewusst, dass die Schussverletzung an ihrem Arm genäht und verbunden worden war. Jedoch hatte sie immer wieder das Bewusstsein verloren. Ihre Erinnerung fühlte sich unvollständig an, löchrig wie ein Schweizer Käse. Alles wurde begleitet von Zitrone und Sandelholz.

„Oh Gott, das arme Kind", flüsterte Taluna und ihre Kehle wurde eng. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel, als sie daran dachte. Das Kind, blutüberströmt in dem dunklen Wagen und der scheinbar gewissenlose Mann, der es liebevoll getröstet hatte. Getröstet vor dem Tod, der den kleinen Jungen unweigerlich ereilt hatte.

'Das ist nicht fair.'

Taluna starrte an die Decke und dämmerte vor sich hin, bis eine tiefe Stimme sagte: „Nora, sie ist wach." Sekunden später wurde Pixi unsanft von ihrer Seite gezogen und ihre Großmutter packte sie bei den Schultern.

„Luna, sag etwas!"

„Schrei nicht so Nonna."

„Gott sei Dank", seufzte Nora und schloss ihre Enkelin in die Arme. Taluna fühlte das Zittern, das dabei den Körper der alten Frau durchlief. Sie sah um Jahrzehnte gealtert aus.

„Nonna, du erdrückst mich", nuschelte Taluna am Hals ihrer Großmutter.

„Ach Pünktchen, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht." Sie ließ Taluna zurück auf die Matratze sinken und sah sie ganz genau an. Um ihre Mundwinkel spielte ein wehmütiges Lächeln.

„Kannst du aufstehen?"

„Ich denke schon."

„Sehr gut, dann mach ich dir jetzt erst einmal etwas zu essen." Taluna hätte gelacht, wenn sie die Kraft dazu aufgebracht hätte: Ihre Großmutter war der Meinung, dass alles besser würde, wenn man erst einmal etwas Ordentliches gegessen hatte. 

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