𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱

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𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱


Letztes Jahr

Cal ließ sich Zeit mit dem Einsammeln ihrer Taschen.

Der verzweifelte Versuch, den letzten Rest Normalität in ihrem Leben zu erhalten.

Sie musste nachdenken. Kannte sie diesen Mann irgendwoher? War er ein alter Vertrauter, den sie im Dunst aus Pillen und Spritzen einfach vergessen hatte?

Seine Erscheinung erklärte zumindest, warum Adorney sie in die Freiheit entließ. Es gab keinen Zweifel daran, dass dieser Mann bekam, was er verlangte.

Cal sollte dankbar für die Chance sein, die sie erhalten hatte, andererseits gab es hundert Erklärungen für sein Erscheinen, die weniger angenehm waren. Zum Beispiel die, dass Less Kontakte mittlerweile nicht nur bis zum nächsten Drogenboss, sondern noch sehr viel weiter reichten. Dass der Mann, der sich als Less ausgab, nur ein Bote war, der sich Cal annehmen würde, bis sie bei Less angekommen waren.

Oder ein alter Freund von Less, der sie für ihren Fehler bezahlen lassen wollte.

Minutenlang stand sie im Zimmer und hielt die Taschen in der Hand, ohne sich zu rühren.

Ihr Hirn fühlte sich an wie gekocht. In Irewrist hatte sie keinen Zugang zum Internet, zumindest keinen freien, sodass es ihr nicht möglich gewesen war, den Tod von Malory zu prüfen. Eigentlich blieb ihr nur, die Fragen, die sie hatte, dem fremden Mann zu stellen, der unten in der Eingangshalle auf sie wartete.

Sie verließ das Zimmer mit ihrem gesamten Gepäck. Es war nicht sehr viel. Von ihrem alten Leben war kaum etwas übriggeblieben, nicht mehr als Erinnerungen jedenfalls.

Am Fuß der langen Steintreppen wartete er.

Cal zögerte ein zweites Mal.

Das war nicht Less, ganz eindeutig. Sie hatte sich nicht getäuscht.

Dieser Mann war groß und kräftig, er trug einen gut sitzenden schwarzen Anzug. Am Auffälligsten waren allerdings weder seine Größe noch seine Kleidung.

Es war das dunkle, leuchtend rote Haar. Die gefährlich glühenden Augen, die die Farbe von Bernstein hatten.

Für Frauen, die darauf standen, sich schlecht zu fühlen, war er sicherlich die erste Wahl. Gutes Aussehen und Geld, und nur die, die beides hatten, würden die Welt regieren.

„Ich bin fertig.", sagte sie.

Der Mann drehte sich um. Wortlos nickte er ihr zu und machte sich auf den Weg nach draußen, ohne auf sie zu warten.

Seine Bewegungen erinnerten an einen Wolf, der seine Beute verfolgte.

Das war es, genauso fühlte Cal sich in seiner Gegenwart. Nicht wie ein Mädchen, das von seinem Geliebten abgeholt wurde, sondern wie ein schwaches kleines Pelztier, das sich schnellstmöglich einen Unterschlupf suchen sollte.

In der Eingangshalle wurde es ruhig, sie waren nicht die einzigen hier. Darcy lungerte in einer Ecke herum und schielte nach dem Mann, der schließlich an der Tür auf Cal wartete.

Als hätte er begriffen, dass er das Theater noch ein paar Minuten lang aufrechterhalten musste, um kein Aufsehen zu erregen.

„Du bist wunderschön.", ließ er mit einem Lächeln vernehmen, das Cal eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Er hielt ihr die Tür auf.

Mittlerweile fragte sie sich, warum sie auch nur einen Moment lang geglaubt hatte, dass diese tiefe, samtene Stimme zu Less gehören könnte.

Vitriol. Der SchakalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt