𝔊𝔢𝔤𝔢𝔫𝔴𝔞𝔯𝔱
Jetzt
„Das sieht nach einer Erkältung aus."
Inge legte Cal die Hand unter das Kinn. Begutachtete ihre Mandeln noch ein wenig länger, dann lehnte sie sich zurück.
„Lass mal gut sein, zumindest für eine Weile. Willst die Männer ja auch nicht anstecken."
„Will ich das nicht?"
Inge ließ ein heiseres Lachen hören.
„Mädchen, du weißt nicht, was du tust."
Das war ihr Lieblingsspruch. Seit sie zu alt war, um als Prostituierte zu arbeiten, nahm sie sich gerne der jungen Frauen an, die Rat und Schutz suchten. Inge war eine der wenigen gewesen, die ihr Leben lang ohne Zuhälter ausgekommen waren.
Cal würde sich selbst nicht als Prostituierte bezeichnen, sie tat es nur ab und an, wenn es nicht anders ging. Das heißt, wenn sie mal wieder irgendwo gefeuert worden war.
„Ich weiß sehr genau, was ich tue. Hätte ich Syphilis, ich würde die ganzen Schweine da draußen absichtlich anstecken."
„Rede nicht so einen Unsinn."
„Und ihre Frauen auch."
Inge reichte ihr einen Schal über das Sofa.
„Du hast gestern Nacht gearbeitet?"
Keine Ahnung. Das ist ja der Spaß.
Ihre Lider zuckten unruhig, als sie sich an den Mann erinnerte, der sie im Stundenhotel besucht hatte. Kein guter Tag, und krank fühlte sie sich auch.
„Ja, aber nicht viel. Die meisten Männer mögen mich nicht."
„Du siehst eben nicht aus wie jemand, den man für Sex bezahlen kann."
Deswegen mochte Cal Inge. Die alte Frau sagte die hässlichen Dinge, wie sie waren. Ohne Schnörkelleien, keine Aschenputtelgeschichten.
Und sie glaubte immer, was man ihr erzählte, weil sie wusste, dass es sich manchmal nicht lohnte, die Wahrheit zu sagen.
„Hast du Zigaretten?"
Cal nickte. Sie hatte auf dem Weg welche gekauft. Abends war ihr erster Gang immer der zum Kiosk, der zweite führte sie zu Inge.
Sie ließ die ehemalige Prostituierte gerne in dem Glauben, sie würde sich um Cal kümmern, die Wahrheit aber war, dass Cal es nicht ertragen könnte, eine weitere geliebte Person zu verlieren. Sie stellte jeden Abend sicher, dass es Inge gut ging. Sie kam jeden Abend um sich zu vergewissern, dass die Alte nicht im Schlaf erstickt oder bei einem Einbruch erdrosselt worden war.
So drehte sich der Kreislauf. Niemand kümmerte sich um sie, also kümmerten sie sich umeinander.
Inge steckte sich eine Zigarette an.
„Wie lief es denn gestern?"
Schon wieder. Inge sollte lockerlassen.
Vor Cals geistigem Auge tauchten die glühenden Augen auf. Ein merkwürdiges Déjà-vu, altbekannt, unentbehrlich, unabänderlich.
„Sie waren okay. Keine Proleten. Ich habe sie beide vor dem Pub gefunden, nacheinander. Sie haben bezahlt und sind gegangen. An sich nette Typen."
Sie hoffte, dass Inge ihre Lügen nicht persönlich nehmen würde.
Nette Typen. Cal hatte mit vielen Männern geschlafen und die wenigsten waren nette Typen. Aber in der Unterwelt bekamen bestimmte Männer diesen Titel. Es waren die, die ihre Finger bei sich behielten, bis die Frau bereit war, die, die in ein Hotelzimmer gingen und nicht in einen schmutzigen Hinterhof, die, die nachher so ein schlechtes Gewissen hatten, dass sie einem sogar Trinkgeld gaben.
Dafür, dass Cal sich nicht als Prostituierte bezeichnen wollte, kannte sie sich ganz gut mit diesen Dingen aus.
„Du solltest trotzdem auf deine Gesundheit achten. Geh zu einem Arzt, du kränkelst schon seit Tagen."
Cal schüttelte den Kopf.
„Und warum nicht? Immerhin bist du noch versichert."
Ganz durch das System gefallen war Cal noch nicht. Sie hatte eine Versicherung. Aber die Blicke der Menschen, die tagsüber arbeiteten und nicht nachts, waren ihr zuwider.
Geschöpfe der Unterwelt eben.
„Ist es dir denn egal? Willst du sterben?"
„Du bist fatalistisch, Inge."
„In meiner Lage war das immer schon angebracht."
Cal sah Inge in die Augen. In die trüben, kleinen Augen, die vor langer Zeit einmal blau gewesen waren. Jeder Glanz war ihnen verloren gegangen, ebenso wie Cals. Wer einmal an dem Punkt im Leben angekommen war, an dem Cal sich befand, kam nicht wieder hoch. Man würde es der Person immer ansehen. Üble Vergangenheit.
„Wo treibst du dich heute rum, Cal?"
Cal zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht sehe ich mich nach meinem besten Freund um."
Der Beste Freund. Engster Vertrauter, er kannte deine Geheimnisse und deine Gebrechen, er war dein Dealer. Cal langweilte sich in dieser Welt aus billigem Glitzer und Second-Hand-Glamour. Wenn ein Mann um sie warb war sie für einen Moment eine schöne Kurtisane, kein Straßenmädchen.
Eins, das Drogen nehmen musste, um der Langeweile zu entkommen, wenigstens für einen Moment.
Sie war nicht süchtig, sie mochte nur das Gefühl von Kontrolle. An irgendeinem Punkt in ihrem Leben war ihr diese abhandengekommen, also kontrollierte sie das letzte, was ihr geblieben war.
Ihren Konsum.
„Na, dann pass auf dich auf, Cal. Die Cops sollen wieder unterwegs sein. Fällst du denen einmal auf, haben sie ganz schnell dein zweites Gewerbe auf dem Schirm."
„Ich bin vorsichtig, Inge."
„Nicht nur vorsichtig, sei unsichtbar. Auch für die ganz bösen Männer dieser Welt."
„Es sind immer nur Männer, die uns wehtun."
„Uns Nutten, ja."
„Was macht uns so viel schlechter als all die anderen Frauen?"
Es war eine ironische Frage. Cal war gerne ironisch, sie kannte es nicht anders.
„Das habe ich schon lange aufgehört zu fragen."
Sie schwiegen.
Cal brach auf und Inge gab ihr den Schal mit, der rau war und nach Zigarettenrauch stank.
Vor dem Haus, in der Kälte, fröstelte Cal wieder. Die alte Hure verlassen zu müssen fühlte sich jedes Mal an, als würde sie aus dem wärmenden Schoß ihrer Mutter gepresst werden. Ein erbarmungsloser Gott, der sie auf die Straßen Londons zurückspuckte.
Cal ging ein paar Schritte. Um sie herum tönte die Nacht, Stöhnen, Lachen, Seufzen, Gespräche.
Irgendwo gab es Musik, irgendwo waren Menschen glücklich. An dieser Ecke wurde eine Zukunft geboren, an der anderen eine ausgelöscht, ein armes Mädchen erlebte ihre ersten Male als Käufliche, ein anderes schaffte den Ausstieg. In diesem Teil Londons gab es kaum Geschäfte, nur Clubs, in denen Geschäfte gemacht wurden.
Und den Mann. Er war hier, in ihrer Nähe.
Wo sollte sie nur hin?
In Nächten, in denen sie nicht arbeitete, wurde es immer besonders unruhig in ihrem Kopf.
Sie drehte sich im Kreis, stets dasselbe Karussell, in dessen Mitte nur die Feststellung stand, dass sie nicht immer so weit unten gewesen war.
Das erste Mal seit langer Zeit dachte sie an New Orleans.
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Vitriol. Der Schakal
Misterio / Suspenso[ABGESCHLOSSEN] VISITA INTERIORA TERRAE RECTIFICANDO INVENIES OCCULTUM LAPIDEM. Der Leitsatz der Alchemisten. LASCIATE OGNI SPERANZA, VOI CH'ENTRATE! Dante Alighieri, Göttliche Komödie. - Das Kolloquium existiert seit Jahrhunderten. Eine mächtige G...