𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱

64 11 20
                                    

𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱



Letztes Jahr


Vitriol.

„Das ist ein Ambigramm. Ich hab in einem der Bücher davon gelesen. Vitriol, richtig rum und auf dem Kopf stehend gleichzeitig. Von oben und von unten."

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. New Orleans hockte sich neben sie und berührte die Buchstaben.

„Deswegen wollten sie, dass ich hierherkomme! Es ging gar nicht um Malory. Es geht um ihr Grab."

Sie richtete sich auf.

Von oben und von unten. Verstehst du, New Orleans?"

New Orleans zog eine Augenbraue hoch.

„Gibt es hier noch mehr Gräber von Mitgliedern des Kolloquiums?", fragte sie.

Er dachte nach und führte sie anschließend wortlos zu einem Grabstein, der deutlich älter war als der von Malory.

„Diese Familie war lange Zeit Teil des Kolloquiums. Das letzte Mitglied starb vor etwas über zwanzig Jahren. Hilft das? Ist das einzige, was mir noch einfällt."

Cal hörte ihm nicht zu. Sie zerrte an Efeuranken und kratzte das Moss vom unteren Ende des Grabsteins noch bevor er zu Ende geredet hatte.

Da ist es.

Vitriol als Ambigramm.

„Scheiße. Sie haben mich auf eine Schnitzeljagd geschickt. Die ganze Zeit. Es ging gar nicht wirklich um die Bücher oder historisches Zeug. Es geht um ein Ambigramm. Das ganze verdammte Kolloquium ist ein Ambigramm."

Sie stand wieder auf und sah New Orleans an.

„Ich muss zurück zur Festung. Zum – zum Clubhaus meine ich."

Seine Mundwinkel zuckten belustigt.

„Du nennst es Festung?"

Aber Cal war schon auf dem Weg zu Aubrey.

In der aufkommenden Mittagshitze der Innenstadt brach Aubrey auf dem Weg zur Festung eine Menge Verkehrsregeln. Cal war so unruhig, dass sie auf ihrem Sitz auf und abzappelte wie ein kleines Kind.

Vor dem Haus riss sie die Autotür auf, noch bevor sie angehalten hatten. New Orleans hatte Mühe ihr zu folgen.

In der Eingangshalle blieb sie stehen, direkt vor der Inschrift auf dem Türsturz.

Vitriolum.

Betrachte, was im Innersten der Erde liegt, und du wirst den Stein finden.

Betrachte, was im Innersten der Erde liegt.

Wir haben nichts mit dem Stein der Weisen zu tun.

Alighieris Traum.

Sie starrte die Inschrift an. Die eingemeißelten Buchstaben tanzten vor ihren Augen.

Vitriol. Der Alternativname für Salze der Schwefelsäure. Schwefelsäure.

Es geht nicht um den Stein.

Wenn es nicht um den Stein ging, war die Inschrift sinnlos. Es sei denn, der Stein war nicht das Wichtigste daran.

Es sei denn, das, worauf der Leser sein Augenmerk lesen soll, war nicht wirklich das Ziel.

„Ach du scheiße.", murmelte sie.

Es war ein Zaubertrick. Einer von der ganz alten Schule.

Es ging nur um Fokus, der Zuschauer sah zum Gefuchtel des Bühnenmagiers, während das wirklich Wichtige an einem ganz anderen Ort passierte. Wer zu nah herantrat, sah das große Ganze nicht mehr. Wer sich vom aufregenden Hantieren des Zauberers beeindrucken ließ, verpasste den Trick.

Cal hatte ihn verpasst, unzählige Male.

Warum sollten Alchemisten, die alles verschlüsselten, ihr Motto so offen darlegen und jedem, der Latein übersetzen konnte, die Anleitung zugänglich machen?

Sie drehte sich zu New Orleans um. Ein schwaches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Der Mann, der sie ohnehin schon für verrückt hielt, verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das ist es. Vitriol von oben und von unten. So wie oben ist auch unten. Wie Innen, so außen. Wie der Geist, so der Körper. Wie ... wie die Welt der Lebenden, so die Welt der Toten. Verstehst du?"

„Keine Ahnung, was du mir sagen willst."

„Betrachte, was im Innersten der Erde liegt, und du wirst den verborgenen Stein finden. Das Kolloquium ist nicht auf der Suche nach dem verdammten Stein, es will den Weg zum Innersten der Erde finden. Zur Welt der Toten."

-

Blake kehrte erst am späten Abend zurück.

Sein Gesicht war verschlossen, Silence und er schwiegen, als Cal das Esszimmer betrat. Sie zog sich die Ärmel über die Handgelenke.

„Ah, Caroline. Wo ist New Orleans?"

Cal verzichtete darauf, ihm von ihrem morgendlichen Großaufgebot im East End zu erzählen. Er hatte was gut bei ihr.

„Wartet irgendwo oben. Vielleicht da, wo er schlafen soll, während ich hier wohne."

Sie setzte sich mit an den Tisch.

Die Männer wirkten bedrückt, schweigsamer als sonst. Irgendetwas war passiert. Wahrscheinlich lief das schon eine ganze Weile so und Cal hatte es nicht mitbekommen.

„Ist alles in Ordnung?"

„Ja. Wir waren nur bei ein paar Mitgliedern des Kolloquiums, eine Besprechung."

Er lügt.

Cal würde sich hüten, ihn mit der Nase darauf zu stoßen.

„Haben sie etwas Neues über das Tor zur Unterwelt?"

Überrascht zog Blake die Augenbrauen hoch. Cal konnte ein triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken. Anerkennung auf Blakes Gesicht zu lesen, war das vielleicht Beste, was ihr in der Festung passieren konnte. Einmal nicht die Dumme sein.

„Du hast es rausgefunden?"

„Ich war bei Malorys Grab. Vitriol, von oben und von unten. Vitriol ist nicht nur ein Ambigramm, es ist auch ein anderer Name für Salze der Schwefelsäure. Schwefel? Ist es ein Zufall, dass das zweite hermetische Prinzip sagt, dass die Welt der Lebenden so ist, wie die Welt der Toten? Der Stein war die Ablenkung. Betrachte, was im Innersten der Erde liegt. Das war die eigentliche Information. Ihr wollt den Weg in die Hölle gehen."

Ihre Handinnenflächen wurden feucht. Wenn sie jetzt Schwachsinn von sich gab, würde es ziemlich unangenehm werden.

Aber Blake nickte.

Auch auf Silence Lippen erschien ein leises Lächeln.

„Du hast es erfasst. Sehr gut, Caroline, sehr gut."

Blake wechselte einen Blick mit Silence.

Cal verfolgte die stumme Kommunikation als Außenseiterin, bis Blake etwas Ungewöhnliches tat.

„Jack, du kannst gehen. Ich denke, Caroline und ich haben einiges zu besprechen."

Statt zu zögern lächelte Silence höflich und entfernte sich aus dem Zimmer. Blake erhob sich gleichzeitig mit ihm und winkte Cal zu sich herüber. Es war lächerlich, mit wie viel Stolz Cals Brust anschwoll, als wäre sie ein Hund, den man stubenrein erzogen hatte, als würden sie ihr endlich den Kopf tätscheln, nach Jahren der missglückten Erziehungsversuche.

Trotzdem schlug ihr Herz wie verrückt, als sie sich Blake näherte.

Das erste Mal, seit sie ihn kannte, hatte sie das Gefühl, sich mit ihm auf Augenhöhe zu bewegen, dass die elektrisierende Spannung nicht nur auf ihrer Seite des Zimmers zu spüren war, sondern dass Blake, ob er wollte oder nicht, ebenso davon mitgerissen wurde, wie sie.

„Und jetzt?", fragte sie.

„Folge mir.", antwortete er.


-----------------------------------------

Ein kurzes, prägnantes Kapitel, in dem ihr die Wahrheit über das Kolloquium erfahrt ;)

Ich denke, ihr habt es schon geahnt.

Vitriol. Der SchakalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt