𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱

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𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱


Letztes Jahr


Sie lag wach. Obwohl sie schlafen müsste wie ein Baby.

In ihrem Kopf drehte sich ein höllische (ha ha) Karussell, das sich nicht aufhalten ließ. Vielleicht spielten die Energydrinks dabei auch eine Rolle. Sie legte sich auf die Seite und starrte New Orleans an, der in einem Sessel saß und schlief.

Jetzt, wo sie ein wenig Ruhe hatte, begann sie, sich zu fürchten.

Verrückt, wie spät das kommt.

Es war eine andere Furcht als die vor Less.

Zwischen Angst und Selbsthass war er kleines Licht gewesen, das immerzu in ihrem Hinterkopf geblinkt hatte. Jetzt stand ihr ein sehr mächtiger Feind gegenüber, der das Kolloquium schon länger in der Hand gehalten hatte, als jeder von ihnen es für möglich hielt.

Cal biss sich auf die Lippen, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten.

Es war zu viel passiert.

Warum konnte ihr Leben nicht ganz normal ablaufen? So, wie das Leben einer jungen Frau sein sollte?

Warum musste sie ein Mann, der aussah wie der Leibhaftige, aus einer Irrenanstalt befreien, nur um sie dann in noch größere Schwierigkeiten zu verwickeln?

Warum musste sie diesen Mann vermissen?

Weil er dein einziger Vertrauter gewesen war, New Orleans hin oder her, so, wie er es geplant hatte. Du gehörst ihm, nicht wahr, Cal?

Sie weinte mehr. Viel mehr.

Ihr Vater war auch noch irgendwo da draußen. Der Mann, der ihr Leiden zu verantworten hatte.

Ohne ihn wäre sie möglicherweise nie in einer Irrenanstalt gelandet. Ohne ihn wäre alles anders geworden.

Sie konnte sich noch immer nicht wirklich an das erinnern, was ihr passiert war. Da waren nur die Bruchstücke, die sie schon kannte.

Wenn Blake jetzt hier wäre, würde Cal sich sicher fühlen. Blake hatte ihr alles beigebracht, was sie jetzt brauchte. Er war nicht nur Teil des Kolloquiums, für Cal war er das Kolloquium.

Erst Minuten später bemerkte sie, dass New Orleans sie beobachtete. Seine Augen schimmerten in der Dunkelheit.

Sie räusperte sich schwach und wischte ein paar Tränen weg.

„Du wolltest doch schlafen."

Er antwortete nicht. Es war ihr peinlich, dass er das mitbekommen hatte, aber sie konnte es ohnehin nicht verhindern. Nach zwei Tagen ohne Schlaf brannten einem die Sicherungen durch.

Cal sah, dass New Orleans wusste, warum sie weinte. Sie weinte nicht, weil sie schwach war, sie wusste nur nicht, was sie sonst tun sollte.

Sie hatte viel zu verarbeiten.

„Wie hast du dich gefühlt, als man dir das erste Mal von dem ganzen Scheiß hier erzählt hat? Ich meine, so richtig erzählt.", fragte sie ihn.

Er zuckte die Achseln.

„Hab mich betrunken. Keine Ahnung. Mein Leben war nicht so der Wahnsinn, bevor ich hierherkam. Es gibt keine Erinnerungen an etwas, was ich vermissen könnte."

„Erzählst du mir was darüber?"

„Kann ich nicht. Wie schon gesagt, da ist nichts. Das Kolloquium bildet Leute wie mich schon seit Ewigkeiten nur zu einem Zweck aus. Wir werden nicht unbedingt auf Emotionalität und Sentimentalität getrimmt."

Vitriol. Der SchakalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt