𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱

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𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱


Letztes Jahr


Auf dem Weg nach oben, den kühlen Schlüssel in der heißen Handfläche, stellte sie fest, dass sie nicht wirklich würde schlafen können. Sie dachte an New Orleans und daran, dass Blake ihr unmissverständlich klargemacht hatte, dass er ihr engster Vertrauter sein würde. Ein kleines Detail spukte in ihrem Kopf, eins, das überhaupt nichts mit der derzeitigen Situation zu tun hatte, aber es wollte sie nicht loslassen.

Im dritten Stock stand sie unschlüssig vor ihrer Zimmertür. Ein kurzer Blick in den Raum verriet ihr, dass New Orleans ein eigenes Zimmer bezogen hatten.

Na schön. Wenn du nicht wieder runter zu Ascensen staksen willst, musst du eben auf gut Glück Klingelmännchen spielen.

Als erstes probierte sie es an der Tür rechts von ihr. Nach vehementem Hämmern antwortete niemand und Cal gab auf. Entweder, das Zimmer war leer, oder New Orleans ignorierte sie rigoros. Beides war denkbar.

Links von ihr erklangen schlurfende Schritte, schon nach dem ersten Klopfen.

„Oui?"

Eine etwas ältere Dame in Bademantel streckte den Kopf zur Tür raus, unverkennbar irritiert bei Cals abgewracktem Anblick.

„Pardon.", murmelte Cal und wandte sich zur anderen Seite. Sie tat, als würde sie ihren Schlüssel suchen, bis sie den argwöhnischen Blick der Frau nicht mehr im Rücken spürte und hörte, dass die Tür geschlossen wurde. Abgeschlossen. Offenbar hatte Cals Äußeres das Äquivalent zum Hotelzimmerdieb erreicht.

Sie pochte gegen die Tür, die ihrem Zimmer gegenüber lag. Wieder schlurfende Schritte, aber diesmal hatte sie Glück.

„Tag, Cal. Lässt du einen nie schlafen?"

Sie drängte sich an ihm vorbei ins Zimmer. Ein Blick verriet, dass New Orleans ebenso wenig ausgeruht war, wie sie.

„Irgendwas ist faul.", sagte sie und setzte sich auf das ungenutzte Bett.

New Orleans fuhr sich durch das Gesicht und schloss die Tür hinter sich. Ihm folgte müdes Schweigen, als er sich zu ihr auf die Bettkante setzte.

„Was meinst du?", brachte er schließlich hervor.

„Ascensen ..." Was sollte sie jetzt sagen?

Cal brach ab.

Wir wissen nicht, wem wir vertrauen können.

Ihr argwöhnischer Blick glitt über New Orleans Profil, tastete nach Spuren, die Misstrauen wecken könnten. Aber er war derselbe wie vor wenigen Stunden noch, müde, düster, und schlecht gelaunt.

Cal spürte den plötzlichen Impuls, sich erschöpft an seine Schulter zu lehnen. Ihr Gesicht wurde heiß, als sie sich vorstellte, wie er reagieren könnte, abweisend, abstoßend ... vielleicht sanft.

Ihr wurde klar, wie sehr sie sich wünschte, dass er sie in den Arm nehmen würde. New Orleans war ihre Festung, vielleicht, um es kitschig auszudrücken. Er war der einzige unabhängige Ruhepol, den sie in diesem Pariser Chaos noch hatte, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Nur einen Moment. Einen Moment lang so tun, als wäre Ascensen nicht im Foyer, als wäre der mysteriöse Martin Léroux nicht auf dem Weg hierher.

Als müsste sie sich nicht von ihm verabschieden.

Was zum Teufel ist los mit dir? Du bist übernächtigt, Cal. Halt die Schnauze und sprich mit ihm.

Vitriol. Der SchakalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt