𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱

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𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱


Letztes Jahr


Er führte sie aus der Bibliothek in die Eingangshalle. Dort blieben sie stehen, direkt vor Dorcas Arbeitsplatz.

Blake drehte sich zur Haustür um und wies auf den schweren Türsturz.

„Was steht da?"

Cal kniff die Augen zusammen.

„Vi ... vitriolvm."

„Das zweite v ist ein u. Vitriolum. Ein Motto, das uns seit Jahrhunderten begleitet. Und ebenso lang steht es schon dort über der Tür, eingemeißelt in einen Stein, damit wir immerfort daran erinnert werden, was wir eigentlich tun."

„Vitriolum also. Und was bedeutet das?"

Blake wandte sich ihr wieder zu.

„Visita interiora terrae, rectificando invenies occultum lapidem, veram medicinam. Vitriolum."

„Willst du mich verarschen? Ich kann kein Italienisch."

„Das ist Latein, Caroline. Betrachte, was im Innersten der Erde liegt, und durch Bereinigung wirst du den verborgenen Stein finden, das wahre Heilmittel."

„Aha. Ich habe keine Ahnung, worum es dabei geht."

„Was weißt du über Alchemie?"

Ungläubig starrte sie ihn an.

„Ihr denkt, ihr wärt Alchemisten? Irgendwelche schrägen Goldmacher?"

„Ganz und gar nicht, Caroline. Wir wandeln nur auf den Spuren derer, die sie für uns erforschten."

„Moment, damit ich das richtig verstehe – ist Alchemie nicht irgendeine Quaksalberei aus dem Mittelalter? Und ihr glaubt daran? Und Malory soll da mitgemacht haben?"

„Immerhin kennst du das Wort Quaksalberei. Das lässt Hoffnung zu."

„Ihr seid wahnsinnig. Verrückter als ich. Ich will zurück nach Irewrist."

„Wie gesagt, wir betreiben keine alchemistischen Forschungen mehr. Wir sind auf der Suche nach etwas anderem."

„Dem Stein der Weisen. Ich weiß. Seid ihr mittlerweile dahintergekommen, dass damit maximal was Metaphorisches gemeint sein kann? Und überhaupt, wenn nicht, wo sind dann die ganzen Fläschchen und Kessel? Wo ist der Dampf? Und wieso trägst du keinen Kittel, sondern einen Anzug, der teurer ist, als ein kleines Haus?"

Blakes Blick ließ sie schrumpfen.

Jetzt bist du zu weit gegangen, Cal.

„Gut."

Mehr sagte er nicht.

Er ging zurück in die Bibliothek und Cal folgte ihm zögerlich. Was sollte sie auch sonst tun? Sich in ihrem Zimmer einschließen wie ein zickiger Teenager? Über das Alter war sie lange hinaus.

„Sieh dich um. Du stehst in einem Raum, der seit Jahrhunderten von Alchemisten genutzt wurde. Sie alle haben ihre Spuren hinterlassen. Sieh dir die Symbole auf den Büchern an. Jedes einzelne hat eine Bedeutung. Entsprechung ist in der Alchemie ein Schlüsselbegriff. Wie oben, so unten; wie innen, so außen; wie der Geist, so der Körper. Über lange Zeit mussten die Alchemisten ihrer Arbeit im Verborgenen nachgehen. Diese Wissenschaft war verboten. Sie wurde verfolgt und unter Strafe gestellt." Blake legte die Fingerspitzen an die Lippen, sein Blick strich über die Buchrücken, sanft wie die Hände einer Mutter. „Darum begannen sie mit der Zeit, ihre Aufzeichnungen zu verschlüsseln. Sie entwickelten ein System aus Codes und Symbolen, um nicht entdeckt zu werden. Dabei waren sie so gründlich, dass wir heute noch dabei sind, es zu übersetzen. Jeder Alchemist ist ein wenig anders vorgegangen, die Zeichen, die du hier siehst, sind über die Jahrhunderte aus unterschiedlichsten Gründen entstanden. Jedes davon hat seine Entsprechung. Ganz besonders Vitriolum. Menschen sind für die Erkenntnisse gestorben, die wir den Alchemisten zu verdanken haben. Eine gefährlichere Wissenschaft wird es niemals geben." Er wandte sich wieder Cal zu, so ernst, dass sie nicht wagte, etwas zu sagen. „Ich verlange nicht viel von dir. Aber bringe unserer Arbeit den nötigen Respekt entgegen. Deine Schwester hat es getan, wie auch schon unzählige kluger Köpfe vor ihr. Reiß dich zusammen, Caroline. Ich weiß, dass du das kannst."

Sie schluckte. Blake wirkte nicht wütend, er hatte sich gut unter Kontrolle. Cal hingegen wusste, dass sie sich wie ein Kind verhielt.

Sie hatte vielleicht keinen Schulabschluss, aber sie war auch nicht dumm.

„Es tut mir leid.", murmelte sie.

Sie setzte sich wieder in ihren Sessel.

„Ich werde offen zu dir sein. Unsere Arbeit ist nach wie vor gefährlich. Wir stehen kurz vor einer Entdeckung, die die Welt verändern könnte. Malory war eine Schlüsselperson. Seit ihrem Tod sind wir auf der Suche nach jemandem, der ähnliche Fähigkeiten besitzen könnte. An dieser Stelle kommst du ins Spiel."

Cal klappte der Mund auf.

„Ihr glaubt, ich kann irgendwas? Ist dir klar, dass ich wahrscheinlich nichtmal einen Bruchteil der Hirnkapazität meiner Schwester habe?"

„Das stimmt nicht, Caroline. Du bist sehr intelligent. Aber leider geraten auch intelligente Menschen manchmal an die falschen Leute."

„Bullshit. Ich kann gar nichts. Nichtmal gut aussehen. Ich bin sicher nicht die richtige für euch."

„Doch. Und weißt du, woher ich das weiß?"

Sie zog eine Augenbraue hoch.

„Du bist mit mir mitgegangen, obwohl du wusstest, dass ich mich unter falschem Namen für dich verbürgt habe. So etwas erfordert Mut und Skrupellosigkeit. Du glaubst vielleicht, du hattest keine Wahl. Aber das stimmt nicht. Man hat immer eine Wahl. Und genau das brauchen wir."

Cal schwieg und Blake legte die Hand auf den Türgriff. Ein Blick auf die Uhr, einer zu Cal.

„Ich muss los.", sagte er. „Ich werde für eine Weile weg sein. Dorcas kümmert sich so lange um dich. Audrey hat ein paar Bücher zu dir hochgebracht, du wirst sie in der nächsten Woche lesen."

„Eine Woche?"

„Richtig. Du hast eine Woche Zeit. Lesen kannst du ja, oder?"

„Moment. Ich habe keine Ahnung, was überhaupt meine Aufgabe sein wird. Ich habe nicht zugestimmt, und ihr wisst nicht, ob ich wirklich dafür geeignet bin. Was springt für mich dabei raus? Ist das gefährlich? Du kannst jetzt nicht einfach abhauen."

Doch. Er konnte einfach abhauen. Niemand konnte das besser als Blake.

Cal saß noch eine Weile in der Bibliothek und starrte die Bilder neben dem Kamin an.

Malory strahlte zwischen den Gesichtern wie ein neu entdeckter Stern.

Außer dem Datum gab es keine Infos auf den Fotos. Blake erkannte sie auf einigen Bildern wieder. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig, aber er war einer dieser Männer, die ebenso gut hundertzwei sein konnten, ohne dass man es ihnen ansah.

Sie wanderte auf und ab und begann, sich die Zeichen anzusehen. Die meisten waren so alt, dass sie fast schon unleserlich wirkten. Im Boden, in den Holzregalen, in der Decke. Ein paar neuere auf dem Schreibtisch.

Cal erinnerte sich diffus daran, dass Alchemie etwas mit Astrologie zu tun hatte.

Und mit Zaubertränken, Pseudo-Hexerei, langen weißen Bärten...

Sie ging zurück in die Eingangshalle. Dorcas Augen ruhten gnadenlos auf ihren.

„Bin ich hier eingesperrt?", fragte Cal.

„Soweit ich weiß hat Blake deine Entlassungspapiere unterzeichnet und dich freigegeben. Du kannst tun und lassen, was du willst." Sie stützte sich auf den Tisch und zeigte ein genüssliches Lächeln. „Wobei ich bezweifle, dass das klug gewesen ist."

Ohne ein weiteres Wort abzuwarten marschierte Cal an ihr vorbei, hinaus in den gleißenden, brütend heißen Tag.

Vitriol. Der SchakalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt