𝔊𝔢𝔦𝔰𝔱
Letztes Jahr
Zu der Zeit, zu der Caroline Tide es fertiggebracht hatte, das Blut aus ihren Erinnerungen wegzuwischen, glaubte sie beinahe wirklich, sie wäre mehr als ein durchgeknallter Ex-Junkie.
Cal hatte eine Menge Scheiße erlebt. Eigentlich war sie zu einem ganzen Haufen Scheiße geworden. Eins hatte sie dabei gelernt: Lüg, als würde dein Leben davon abhängen, denn meistens tat es das.
Sie zog die Ärmel ihres Pullovers über die Handgelenke und biss sich auf die Lippen. Keine Irre. Aber die Zweifel kehrten zurück.
Auf unangenehme Weise würde sich heute entscheiden, wie ihre Ärzte das sahen. In den letzten Wochen war sie davon überzeugt gewesen, dass es bei ihr lag. Dass sie sich nur gut genug würde anstrengen müssen, um aus einem Haufen Scheiße einen akzeptablen, gesunden Menschen zu zaubern.
Das war Bullshit.
Entscheiden taten die Ärzte.
Und Cal hatte das ungute Gefühl, dass die Hitze dieses Sommertages kein seichtes Urteil mit sich bringen würde.
Adorney schob seine Brille die Nasenspitze hoch. Selbst im Innern der Anstalt pochte Marylands glühender Sommer, auf dem Gesicht des Direktors glänzte ein öliger Schweißfilm.
„Sie werden entlassen.", sagte er.
Cal regte sich nicht. Adorney sah auf.
Sonst nichts? Keine ärztlichen Gutachten, keine langen Predigten, keine Psychiatrie?
„Wie ... wieso?"
Cals Stimme war spröde. Sie hatte nicht das Gefühl, dass der Direktor ihr eine zufriedenstellende Antwort darauf geben konnte.
Vielmehr schien er sich selbst zu fragen, was dieses Urteil sollte.
Er räusperte sich ein zweites Mal.
„Das war nicht meine Entscheidung. Sie haben einen äußerst vertrauenerweckenden Bürgen, der sich stark für Sie eingesetzt hat. Fortan übernimmt er Ihre Vormundschaft, zumindest vorerst. Ich nehme an, das alles hat mit dem Tod Ihrer Schwester zu tun."
„Der Tod meiner Schwester?"
Cal versuchte, abzukühlen. Adorney musste sie verwechseln. Vielleicht lagen ihm die falschen Unterlagen vor.
„Mallory Tide, wenn ich den Namen richtig vorliegen habe. Die Nachricht erreichte uns durch Ihren Bürgen. Ihrer Familiengeschichte entnehme ich, dass Sie nicht viel Wert darauflegten, Kontakt zu Ihren Verwandten zu halten, das beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit. Malory Tide verstarb vor etwa sieben Monaten."
Cal legte nicht nur keinen Wert darauf, sie umging den Kontakt wo sie nur konnte.
Es wunderte sie nicht, dass Malory beerdigt worden war, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte. In ihrem Innern regte sich nicht einmal Mitgefühl. Malorys Gesicht war Cal nur verschwommen in Erinnerung geblieben.
Was also sollte der Tod ihrer Schwester mit ihrer Entlassung zu tun haben?
„Ich verstehe das nicht. Ich habe Malory vor sechs Jahren das letzte Mal gesehen, und das nur kurz. Wir hatten kein enges Verhältnis. Sie ist ... immer unerreichbar gewesen."
Adorney tippte konstant mit einem Stift auf den Schreibtisch.
Das Geräusch nervte Cal ziemlich.
„Miss Tide, warum fragen Sie überhaupt nach? Planen Sie Ihr neues Leben. Treffen Sie sich mit Freunden, mit irgendwem. Ich muss ehrlich sagen, dass die Gutachten der prüfenden Ärzte mich überrascht haben. Ich persönlich war nicht unbedingt der Überzeugung, dass Sie schon bereit für die Außenwelt sind."
Er stellte eine gute Frage. Cal sollte es nicht kümmern, durch wen und mit welchen Mitteln sie aus Irewrist geholt worden war.
Es interessierte sie ja auch nicht, wie Malory gestorben war.
„Ich frage trotzdem. Was hat der Tod meiner Schwester mit meiner Entlassung zu tun?"
Adorney wich Cals Blick aus.
„Ich spreche Ihnen mein Beileid aus, Miss Tide. Hätten wir früher davon gewusst, hätten wir Ihnen eine Reise zur Beerdigung ermöglicht. Sie sollten jetzt packen gehen."
„Das habe ich schon."
Adorney hielt sich nur mit Mühe unter Kontrolle, das konnte Cal ihm ansehen.
„Dann gehen Sie zu den anderen in den Unterricht. Lesen Sie etwas. Was auch immer. Ihr Vormund kommt Sie heute abholen."
Adorney hielt das Gespräch für beendet.
Cal stand noch immer im Raum, die Lippen mittlerweile blutig gebissen.
Sie kannte sich sehr gut. Menschen bis zur Weißglut zu reizen, Wut zu sähen und dabei zuzusehen, wie sie andere dabei verbrannten, war eine ihrer Spezialitäten.
Cal konnte einfach nicht die Klappe halten. Auch jetzt, wo sie wusste, dass ihre verdammte Zukunft davon abhing, fiel es ihr schwer.
Adorney gab ihr keine Chance.
Er wollte nicht freundlich sein, er wollte ihr nicht helfen, er wollte sie einfach nur loswerden.
Menschen wie Cal waren unangenehm, alle wollten sie loswerden. Cal sollte nehmen, was sie kriegen konnte.
„Wer ist der Bürge?"
Adorney sah überrascht auf. Als hätte er sie nicht nur aus seinen Akten, sondern auch aus seinem Gedächtnis gestrichen.
„Miss Tide, ich habe Sie gebeten zu gehen."
Cal ballte die Hände zur Faust. Die Pulloverärmel wurden feucht, feucht von Schweiß und Hitze.
„Wer ist der Bürge und was hat meine Schwester mit ihm zu tun?"
Adorney klappte die Mappe zu, in der ihre Entlassungspapiere lagen. Seine Kopie der Papiere. Die anderen hatte die Person, die fortan die Verantwortung für sie tragen würde.
„Hören Sie, Miss Tide. Ich habe keine Zeit für sowas. Sie können sich glücklich schätzen, dass der Mann das für Sie durchgedrückt hat. Lucas Jordan, sagt Ihnen der Name etwas? Und nun gehen Sie. Ich habe zu tun."
Cals Faust erschlaffte, die Ärmel rutschten wieder nach oben.
Lucas Jordan.
Sie hatte den Namen schon lange nicht mehr gehört. Nach den ersten Therapiestunden war er im Wust ihrer eigenen Unzulänglichkeiten versunken. Es gab hundert Gründe, aus denen sie nicht über Less sprach.
Aber jetzt er war hier.
Und sie wusste, dass Adorney verboten worden war, seinen Namen zu nennen.
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Vitriol. Der Schakal
Gizem / Gerilim[ABGESCHLOSSEN] VISITA INTERIORA TERRAE RECTIFICANDO INVENIES OCCULTUM LAPIDEM. Der Leitsatz der Alchemisten. LASCIATE OGNI SPERANZA, VOI CH'ENTRATE! Dante Alighieri, Göttliche Komödie. - Das Kolloquium existiert seit Jahrhunderten. Eine mächtige G...