-𝕋𝕨𝕠- ✔

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Die restlichen zehn Minuten der Stunde - ich wäre fast um meine öffentliche Exekution herumgekommen! - verbringe ich damit, aus dem Fenster zu schauen, dessen einst silberner Rahmen jetzt von winzigen Graffiti-Schriftzügen geschmückt wird. Als Miss Addison dann die Stunde beendet, genau pünktlich zum Pausenbeginn, da es an unserer Schule keine Klingel gibt, packe ich routiniert meine Sachen in meinen Rucksack und stehe auf, um mich auf den Hof zu begeben und darauf zu warten, dass ich das Kantinen-Essen an einen willigen Menschen an meinem Tisch weitergeben kann - und meistens trifft es Kathy oder Benji.

Meinem Plan wird von Miss Addison jedoch ein Strich durch die Rechnung gemacht. Ich könnte weinen; warum muss diese Frau mich immer so nah an einen Nervenzusammenbruch bringen? Vorbeilaufende Schüler missachten mich, als ich infolge einer auffordernden Handbewegung meiner Lehrerin auf ihren Tisch zugehe, und dabei fast mit einem von ihnen zusammenstoße. Trotz meiner halben Panikattacke - es ist schwer für mich, Dinge zu akzeptieren, die ungeplant passieren - schaffe ich es, der Schülerin, die in eiligem Tempo den Raum verlässt, ohne mich wahrgenommen zu haben, auszuweichen, damit weder meine noch ihre Nase auf dem Parkettboden landet. Ein Danke hätte auch nicht geschadet.

"Carter, haben Sie eine Ahnung, warum ich Sie nach vorne geholt habe?", fragt die blonde Frau am Lehrerpult, während sie ein Lehrbuch in ihrer braunen Tasche verschwinden lässt. Als ich letztere betrachte, fällt mir auf, dass so einige Lehrer an unserer Schule eine solche Tasche haben. Vielleicht hat ja jeder Lehrer eine bekommen oder es sind Medaillen: Du quälst die Schüler schon seit fünf Jahren? Hier hast du eine alte, braune Kunstledertasche, die so unstylisch ist, dass die Kinder eigenständig aus dem Fenster springen werden.

Ich bin vielleicht kein Experte in Sachen Mode, was man meinem Kleidungstil auch ansieht, aber das ist ein Monstrum und gehört verbrannt. Mit einem nach außen hin wahrscheinlich leicht angeekelten Blick schüttele ich den Kopf; nein, ich habe keine Ahnung, warum sie das getan haben könnte, da sie das mit anderen Schülern normalerweise nicht tut.

"Sie wirkten unkonzentriert. Haben dem armen Cäsar-Plakat Löcher in die Toga gestarrt. Geht es Ihnen gut?" Ihre Stimme klingt aufrichtig besorgt und ich muss mir ein Schnauben verdrücken. Durch Dokumentationen und den Erzählungen meiner Tante lerne ich zwar ziemlich viel über die Dinge, die im Zweiten Weltkrieg passiert sind, aber im Unterricht werden nochmal andere Dinge besprochen. Meinte Maryse zumindest, als ich ihr gesagt habe, dass ich die meiste Zeit ein semi-passiver Zuhörer war, der möglicherweise nicht alles mitgeschnitten hat. Sie meinte, ich solle besser aufpassen.

"Hervorragend. Unkonzentriert war ich keineswegs, ich habe Ihnen zugehört und die Dinge, die ich brauchen werde, herausgefiltert, um sie abzuspeichern." Beiläufig zucke ich mit den Schultern. "Verzeihung, wenn ich unbeteiligt wirkte. Aber wenn ich mich nicht auf zu viele Sachen auf einmal konzentriere, fällt es mir leichter, die Hintergrundgeräusche auszublenden und ihre Stimme zu fixieren. Deshalb starre ich in der Gegend herum."

Miss Addisons Mundwinkel verziehen sich nach oben und man könnte meinen, sie würde wieder lächeln. "Sind Sie gelangweilt von dem Unterricht, dem Sie hier beiwohnen müssen, Carter?" Ihre Frage wirkt aufrichtig und ich erinnere mich wieder an den Fakt, dass sie Vertrauenslehrerin ist und sogar ein eigenes Büro dafür besitzt. Jedoch irritiert mich dann wieder die Tatsache, dass sie, trotz der offensichtlichen Gegebenheit, dass ich definitiv nicht riesig bin - vielleicht einen Meter dreiundachtzig, die letzte Messung ist ein bisschen her -, zu mir aufsehen muss. Da sie im Stehen jedoch auch viele Zentimeter kleiner als ich ist, bin ich nochmal sehr viel größer als sie, wenn sie sitzt.

"Oft ja. Es gibt viele Dinge, die schon wusste oder mir gemerkt habe, da wir sie ein paar Stunden vorher schon angekratzt haben. Wenn mich angesprochene Dinge interessieren, belese ich mich darüber und da ich wie ein Schwamm bin, der Wissen aufsaugt - das Filtern muss ich selbst übernehmen, manche Dinge sind nämlich schlichtweg uninteressant -, habe ich es nochmal ein wenig leichter. Im Gegensatz zu anderen Schülern, die aussehen, als würden sie aktiv zuhören, die es aber eigentlich gar nicht tun, sehe ich wahrscheinlich aus, als würde ich nicht zuhören, tue es aber eigentlich."

Nobody | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt