Das obligatorische Gut und das Abendessen gestern, bei dem meine Tante, mein Onkel - ihr Mann - und ich schweigend da gesessen und unser Essen angestarrt haben, müssen Misstrauen bei Maryse geweckt haben. Zwar bin ich normalerweise auch sehr still, aber sie kommt mir schnell auf die Schliche, wenn mich etwas bedrückt, was daran liegen könnte, dass sie mich besser kennt, als jeder sonst.
Was mich bedrückt, ist die Tatsache, dass Victor, mein Onkel, dieser Mistkerl, immer noch bei uns wohnt. Nein, eigentlich bedrückt mich das nicht, es lässt mich rasend vor Wut werden.
Als ich dann am nächsten Morgen in der Schule ankomme, lasse ich mir nichts von der Anspannung anmerken, die das Schweigen prägnant macht, genauso wenig wie von der fast angeekelten Art und Weise, mit der mich mein Onkel bedacht hat, so, wie er es immer tut.
Kathy läuft natürlich direkt auf mich zu. Ihre Kleidung besteht aus einem schwarzen Croptop und einer hellblauen Jeans, die ihr gerade so über den Hintern reicht. Ich will sie keineswegs bewerten und jeder kann tragen, was er möchte, jedoch mache ich mir Sorgen, dass einige, vor allem männliche, Wesen ihren Kleidungsstil als eine Art Aufforderung auffassen könnten, sie irgendwie unangemessen zu berühren. Woher sie sich das Recht dazu nehmen, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich aus der gleichen Fabrik, aus der auch ihr maximal erbsengroßes Gehirn stammt und in der die offensichtlich falsche Meinung vertreten wird, Frauen seien Objekte.
"Was Kürzeres hättest du dir auch nicht anziehen können, oder?", begrüße ich sie. Da Kathy bei mir weiß, dass ich das keineswegs abwertend meine und ich mich außerdem für sie freue, dass sie so selbstbewusst ihren Körper zur Schau tragen kann, lacht sie mich an und nimmt alles mit Humor.
"Eifersüchtig?", neckt sie mich, was ich nur mit einem Kopfschütteln abtun kann. Dann sehe ich mich um und natürlich bestätigt sich meine Vermutung: Ein paar, hauptsächlich jüngere, männliche Schüler gaffen zu uns herüber und versuchen noch nicht einmal zu verstecken, dass sie wie Aasgeier auf Kathy starren, als sei sie ihre nächste Beute. Gallensaft bahnt sich seinen Weg meine Speiseröhre nach oben; wie kann man so widerwärtig sein?
"Du hättest genauso gut in Unterwäsche kommen können." Ich stelle mich mit verschränkten Armen vor sie und bedenke ihre Stalker mit giftigen Blicken. Einige von ihnen wenden peinlich berührt den Blick ab, vielleicht wegen der Vermutung, die sich bei ihnen anschleicht, Kathy und ich wären zusammen, während andere jetzt noch ein wenig interessierter wirken und frecherweise versuchen, an mir vorbeischauen zu können.
"Vielleicht sollte ich genau das das nächste Mal tun", erwidert sie, während sie sich nachdenklich gegen ihr Kinn tippt, was ich sehen kann, da es mir mit diesen Idioten reicht und ich mich deswegen wieder zu ihr gedreht habe. Wirklich, wie kann man so ein Spanner sein?
"Hast du schon mal was von Hausordnung gehört, Kathy? Stell dir vor, ich würde so in die Schule kommen", beschwöre ich sie und ich sehe, wie sich bei der Vorstellung ein leichtes Grinsen auf ihrem Gesicht abzeichnet. Ich will gar nicht so genau wissen, was für ein Bild gerade in ihrem Kopf aufploppt, glaube ich, deshalb stelle ich auch keine Fragen.
"Das will ich mir lieber nicht vorstellen. Ich glaube nicht, dass Croptops dir stehen würden." Sie grinst mich an, aber meine Stirn legt sich in Falten, als sich mir die Vorstellung fast automatisch aufdrängt. Sie hat recht, Croptops würden mir keineswegs stehen.
"Du hast mich doch noch nie in einem gesehen, woher willst du wissen, dass es mir nicht stehen würde?", frage ich jedoch, da ich mir über das Ausmaß ihrer Fantasie nicht im Klaren bin und ich deshalb auch nicht sagen kann, ob sie sich mich in einem solchen Kleidungsstück vorstellen kann, ohne an Luftmangel, den ein Lachkrampf hervorgerufen hat, zu sterben.
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Nobody | ✓
Ficção Adolescente-1. Teil der Social Distances Dilogie- -ABGESCHLOSSEN- Carter hat nicht nur mit seiner Intelligenz, sondern auch mit einem Wort, das andere Menschen Liebe nennen, zu kämpfen. Nur ist diese Liebe eben manchmal kein Wort, sondern ein Gefühl - und Gefü...