-𝔽𝕠𝕣𝕥𝕪 𝕆𝕟𝕖-

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Oberkörperfrei räume ich die Spühlmaschine ein, denn Maryse schafft es damit wirklich immer wieder, mich auf die Palme zu bringen.

"Wo warst du? Ich weiß, dass bei euch heute Sport ausgefallen ist, also bitte lüg mich nicht an, ja?" Mit verschränkten Armen kommt sie in die Küche, ihr Gesicht ist zu einer strengen, mütterlichen Miene verzogen, die, gepaart mit einer ordentlichen Portion Sorge, ihr jetziges Gesamtbild formt.

"Bei einem Freund", erwidere ich gelassen und beschäftige mich dann weiter mit der Spühlmaschine. Sie glaubt mir wahrscheinlich nicht, aber eigentlich ist mir das in diesem Moment ziemlich egal.

Ich muss immer noch an die Unterhaltung mit Daniel denken. Bisher hat es noch niemand geschafft, mich so gut zu verstehen. Er hat Fragen gestellt, auf die man normalerweise nicht - oder zumindest nicht als Neurotyp - kommt.

"Weißt du, wenn ich mich früher mit irgendwelchen Jungen getroffen habe, erzählte ich meinem Vater - sofern er Zuhause war -, dass ich bei einer Freundin wäre. Bei dir würde es ebenfalls Sinn machen, das zu sagen - du weißt schon, wegen Kathy -, aber bei einem Freund? Da werde ich misstrauisch, das kannst du mir glauben." Sie kneift ihre Augen zusammen und stiert in meine Richtung.

Weitesgehend blende ich sie aus und rufe mir jedes Detail von Daniels und meinem Gespräch ins Gedächtnis. Er hätte unmöglich etwas erwidern können, aber das hat er. Wie ist das möglich?

"Also, wo warst du wirklich, Carter?", endet sie ihren Monolog und sieht mich mit schiefgelegtem Kopf an.

"Ich habe dich nie angelogen, Maryse." Noch immer sehe ich nicht in ihre Richtung und beende meine vorherige Tätigkeit, indem ich die Spühlmaschine schließe. Dann sehe ich sie irgendwann an. "Zumindest nicht, soweit ich mich erinnern kann. Sollte mich die kindliche Amnesie jetzt Lügen strafen, tut mir das wirklich leid."

"Carter, das war überhaupt nicht böse gemeint. Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich. Du bist jetzt fast achtzehn - genau drei Wochen sind es noch - und bald gehst du aufs College. Du wirst einen Freund - oder was auch immer - finden, aber wenn du mir jetzt nicht einmal sagen kannst, dass du dich mit jemandem getroffen hast ... wie soll es dann sein?

Ich will damit nur sagen, dass du mir immer vertrauen kannst, egal was passiert. Das musst du mir glauben, okay? Also bitte beantworte jetzt meine Frage oder gib deinem 'Freund' einen Namen." Inzwischen ist die strenge Seite aus ihrer Miene verschwunden und hat einer vertrauten Fürsorge platz gemacht.

"Sein Name ist Daniel Morgan." Ich sehe in ihr Gesicht und kann genaustens ihre Reaktion analysieren.

"Du meinst den pansexuellen Jungen?" Ihre Augen sind weit aufgerissen, die Pupillen erweitert, als hätte sie Angst vor dem Namen.

Derweil ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. "Leute auf ihre Sexualität zu reduzieren, ist ziemlich fies. Das wäre, als würde ich dich stets und ständig die Heterosexuelle nennen. Wie würdest du das finden?" Wir legen gleichzeitig und wie Spiegelbilder unsere Köpfe schief.

"Tut mir leid." Reuevoll sieht sie mich an, aber da ich sowieso nie den Sinn von Entschuldigungen verstanden habe, schweige ich sie einfach nur an.

Irgendwann, als auch sie nicht mehr zu wissen scheint, was sie erwidern könnte – und das Suchen nach einer Lösung ihr zu viel geworden ist –, wechsele ich einfach schalgartig das Thema. "Wer war eigentlich deine Verabredung am Sonntag? Ich nehme an, du wolltest seinen Namen vor Kathy nicht erwähnen, hatte das einen Grund?"

"Woher solltest du wissen, dass es sich bei dieser Person um einen Mann handelte?", stellt sie eine Gegenfrage, die mich nicht lange nachdenken lässt.

Nobody | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt