-|𝔽𝕠𝕣𝕥𝕪 𝕋𝕙𝕣𝕖𝕖|-

71 12 56
                                    

2011

Ein gebrochener Lichtstrahl fällt in Isaacs Zimmer und verdeutlicht dem Sechzehnjährigen, dass er dringend aufräumen sollte, statt seine Zeit mit anderen unnützen Dingen zu vergeuden – Dingen, die sein Vater keineswegs gutheißen würde, wenn er sich näher mit den Tätigkeiten seines Sohnes befassen würde.

Im jetzigen Augenblick verschwendet Isaac diese kostbare Zeit, die ihm auf Erden bleibt, indem er dabei ist, die alten Aufzeichnungen des Professors durchzusehen, die er in einem abgeschlossenen Aktenschrank in seinem Büro aufbewahrt hatte, zu dem nur noch Isaac einen Schlüssel hat.

Inzwischen hat er aufgehört, darüber zu überlegen, wie lange der Professor schon weg ist und ob er wieder kommen wird. Er hat aufgehört, zu hoffen.

Hoffnung würde ihn in seiner Situation auch nicht weiter bringen.

Die Hälfte der Aufzeichnungen hatte der Professor am Computer geschrieben, die andere Hälfte in einer kaum entschlüsselbaren Schnellschrift, aufgrund derer Isaac so lange braucht, alles zu entziffern.

Der Mann, der immer wie eine Art Vater für Isaac war, hatte jedes Experiment dokumentiert und er selbst hatte sich zur Aufgabe gemacht, jedes 'gescheiterte' Experiment auszusortieren, sodass nur die ad acta gelegt werden, die geklappt haben und bei denen die Kinder nicht direkt nach der ersten Dosis gestorben waren. Alle anderen werden verbrannt, als hätte es sie nie gegeben.

Ein Schauer fährt über Isaacs Rücken, als er an die Leichenhalle auf dem Gelände mit den Laboren denkt, aber er lässt sich nicht ablenken und nimmt sich stattdessen die nächste Akte vom Stapel, in der hinter dem Namen des Kindes groß und in rot ein einzelnes Wort steht: misslungen.

In den nächsten fünf Akten das selbe. So langsam verliert Isaac seinen letzten Glauben an die Menschheit, aber vielleicht beginnt er ja auch zu verstehen, warum alles Gute für ihn selbst längst gestorben ist.

Als Isaac jedoch den nächsten Ordner aufschlägt, der sich schon beim Hochheben nach deutlich mehr angefühlt hatte, als die anderen, springt ihm direkt das Bild eines Jungen entgegen.

Das Gute an der Ordnung des Professors ist, dass nur bei Experimenten, die geklappt haben, Bilder vorzufinden sind und ein wenig atmet Isaac auf – vor allem anhand der Tatsache, dass es sich nicht wieder um ein misslungenes Experiment handelt.

Denn Isaac ist sich definitiv sicher, dass ein weiteres seinen Magen zum Rebellieren bringen würde und das will wirklich niemand sehen geschweige denn sauber machen.

Der Junge auf dem Bild hat relativ dunkle Haare, das kann Isaac ausmachen, obwohl er immer zu den Gedanken im Hinterkopf behält, dass der Ort, an dem das Foto mutmaßlich gemacht wurde, ein unheilvoller und düsterer Platz ist – und das meint er wörtlich.

Er lächelt nicht, aber das tut sowieso keines der Kinder, die der Professor je in seine Finger bekommen hat. Seine Augen sind matt und glanzlos, aber er wirkt nicht schwach.

Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum er nicht direkt gestorben ist. Aber jedes der Kinder ereilt das gleiche Schicksal, egal, ob nach der ersten Spritze oder nach Abschluss des ganzen Experimentes: Sie sterben.

Und nicht nur sie, sondern auch ihre Eltern, aber die sind meistens schon tot, bevor das Kind in einen Käfig gesperrt und zu den Laboren transportiert wird, um dort darauf zu warten, dass es seinen Eltern ins Jenseits folgen kann.

Ein weiterer Schauer durchfährt Isaac, obwohl er die Prozedur nur zu genau kennt; auch wenn er sie am eigenen Leib nie erlebt hat, war er immer derjenige gewesen, der im Nachhinein kurz mit den Überlebenden gesprochen hat – und was er dort gehört hat, war schon Hölle pur.

Wenn er etwas gehört hat. Einige der Kinder sind verstummt oder erblindet, sind taub geworden oder haben im Schock vergessen, wer sie sind.

Aber an den Jungen auf dem Foto kann er sich nicht erinnern. Mit ihm kann er nicht gesprochen haben, noch nie.

Es wäre ihm im Gedächtnis geblieben, so viel steht fest, denn sonst hätte der Professor ihn schon längst eingetauscht. Gegen jemanden, der womöglich bessere Fachkenntnisse hat, als Isaac und jemanden, der vielleicht nicht ganz so verkorkst ist, wie er.

Zwei elendig lange Minuten ruft sich Isaac jedes Gespräch mit den Kindern und jedes ihrer Gesichter ins Gedächtnis, aber der Junge ist nicht dabei.

Wer zur Hölle ist das und wie kommt seine Akte in die Schublade, wenn er nie mit Isaac gesprochen hat? Der Professor hat immer jedes Kind mit Isaac sprechen lassen, bevor es das Zeitliche gesegnet hat – was irgendwie fast schon deprimierend ist, da Isaac auf sie meistens wie eine Art letzter Hoffnung wirkt, die er ihnen letztlich jedoch nicht erfüllen kann.

Aufmerksam beginnt Isaac, das Geschriebene zu lesen. Dieser Hefter ist vom Professor handschriftlich verfasst worden, aber die Schrift ist deutlich ordentlicher, als hätte der Mann sich extra Mühe gegeben.

Beim Stichpunkt Auffälligkeiten steht etwas davon, dass der Kleine – sechs ist er gewesen –, abgesehen von ein paar schreienden Lauten bei der Markierung, keine Reaktionen auf die Spritzen gezeigt hat und man ihn deshalb hat gehen lassen. Seine Eltern sind tot, genau wie die Erinnerungen an das Geschehene, aber dass er noch lebt, überrascht Isaac so sehr, dass er kurz aufstehen und zum Fenster gehen muss.

Wenn er diesen Jungen findet, wird er das Gespräch nachholen, auch wenn der Kleine sich an nichts mehr erinnert, so viel steht für ihn schon mal fest.

Aber trotz allem fragt Isaac sich die ganze Zeit, wie es sein kann, dass die Spritzen beim Jungen keine Wirkung gezeigt haben, fast, als hätte er eine Art Superkraft, die das bewirkt.

Oder er hat einfach an den völlig richtigen Stellen seiner genetischen Information SNPs, sodass er einfach immun gegen alle Mittel ist.

Noch eine ganze Weile diskutiert Isaac mit sich selbst über allerlei Theorien, die letztlich gar keinen Sinn mehr ergeben. Er legt den Ordner irgendwann auf die ganz linke Seite seines Schreibtisches und sitzt noch ein paar Minuten schweigend da.

Dann rümpft er fast abfällig die Nase und nimmt den Ordner wieder in die Hand. Das Geschriebene erneut durchzulesen, würde eigentlich keinen Sinn ergeben, aber er tut es trotzdem.

Carter Redwood. Diesen Namen muss er sich in jedem Fall merken, egal, was auch passiert.

Schließlich hat er noch ein Gespräch mit ihm offen, so viel ist schon mal sicher – zumindest für ihn.

Ein mildes Grinsen ziert Isaacs Gesicht und er entschließt sich dann irgendwann dazu, die Akten weiter durchzugehen.

Ein wirklich grandioser Weg, seinen sechzehnten Geburtstag zu verbringen.

----

Hallo :),

ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen und zum Nachdenken angeregt hat 😁.

Habt einen schönen Abend und bis Dienstag 😊.

Man liest sich (hoffentlich) 🤗.

Nobody | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt