2007
Die Schuhe, die er trägt, waren einst weiß, doch er hat sie angemalt, bevor sie hätten ergrauen können.
Jetzt zieren die unterschiedlichsten Farben, allen voran rot, seine Lieblingsschuhe, die ihm der Professor geschenkt hat.
Er schluckt, als er an den Professor denkt, den Professor, vor dem er gewarnt wurde. Dämon, haben sie ihn genannt. Dämon ohne Gnade.
Sie alle sind jetzt tot.
Isaac ist sich nicht sicher, ob sie es verdient haben oder nicht, aber ohne Verunsicherung zu zeigen, schreitet er weiter über das leergefegte Gelände, auf dem noch vor einiger Zeit Experimente an Kindern durchgeführt wurden, die jetzt, da der Professor fort ist, eingestellt wurden.
Warum er der einzige ist, der hier sein darf, hat er den Professor nie gefragt; zu große Angst hat er vor seiner Reaktion.
Aber jetzt ist er weg und wird erst bei seinem nächsten Ausbruch wieder kommen.
Irgendwie wahnsinnig traurig, dass er der einzige ist, der Isaac je verstanden hat, mit Ausnahme seiner Mutter. Nicht einmal seine Geschwister, mit denen er sich eigentlich immer sehr gut verstanden hat, kennen ihn richtig - wissen, wer er wirklich ist.
Verständnis hat er nie von irgendwem erwartet - das einzige, was er sich immer gewünscht hat, war Liebe. Die Liebe seines Vaters.
Kurz schüttelt der Junge den Kopf; die Liebe seines Vaters wird er auch in hundert Jahren nicht bekommen.
Er geht auf Labor 21 zu und öffnet die große Metalltür. Die scharlachrote Zahl an der schwarz gestrichenen Wand glüht in der Nacht; wenn man genau hinsieht, scheint man alle Seelen der in diesem Haus Verstorbenen erkennen zu können.
Isaac schaudert und setzt seinen Weg fast blind fort. Er kennt das Gelände in- und auswendig, hat Pläne und Karten des Fünftausend-Quadratmeter-Grundstückes studiert und sich die architektischen Grundrisspläne jedes einzelnen Gebäudes eingeprägt.
Wie hat er es eigentlich geschafft, von der Nadel des Professors verschont zu bleiben? Sicher ist Isaac sich nicht, vielleicht hat er ja gefallen an ihm gefunden.
In jedem Fall hat er ihn angewiesen, auf die Labore aufzupassen, während er fort ist. Das heißt doch, er würde zurückkommen, oder?
Er ist sich sicher, dass der Professor Station vier nicht einfach im Stich lassen würde. Vielleicht wussten sie ja aber auch, dass der Professor zurückkommen würde, weshalb sie jetzt - wenn auch nur vorübergehend - einem Zwölfjährigen das Kommando überlassen haben.
Eigentlich ist Isaac nur ihre Marionette, doch irgendwann hat er angefangen, sich damit zufrieden zu geben.
Besser, als sich Zuhause anzusehen, wie seine jüngeren Geschwister in ihrem eigenen Chaos untergehen. Keine schöne Aussicht, vor allem nicht im Angesicht der Tatsache, dass hinter alle dem sein Vater steht und den Kopf über die Unfähigkeit seiner Kinder schüttelt, statt sie eines besseren zu belehren.
Er zieht aus reinem Reflex die Kapuze seiner schwarzen Strickjacke ein weniger tiefer in sein Gesicht und sieht sich anschließend um, öffnet die Türen zu den einzelnen Stationen und kontrolliert, ob alles ordentlich und aufgeräumt ist.
Isaacs Augen wandern wie automatisch zur Tür, als ein lautes Schepppern ertönt und es kurzzeitig dunkel wird.
Hinter sich hört das keuchende Atmen eines anderen Menschen. Es ist immer noch dunkel und so langsam beginnt der Junge Panik zu schieben.
Er traut sich nicht, auch nur einen Finger zu krümmen, geschweige denn, zu stark zu atmen.
Kaltes Metall schiebt sich an seine Schläfe und das Licht geht wieder an. Ängstlich hebt er die Hände und beginnt zu wimmern.
"Was macht ein kleiner Junge zu einer solchen Zeit bei den Lagerhallen?", fragt eine weibliche Stimme hinter ihm, aber noch wagt er es nicht, sich umzudrehen - die Waffe, die ihm an den Kopf gehalten wird, ist wahrscheinlich schon Grund genug.
"Ich ..." Warum war er auch so naiv anzunehmen, bei den Lagerhallen seien keine Wachen postiert?
"Dorothea, lass' ihn doch. Du jagst ihm Angst ein. Isaac, du kannst dich umdrehen." Eine warme - allzu bekannte - Männerstimmer ertönt und erleichtert atmet er aus.
"Victor, hast du mir vielleicht einen Schrecken eingejagt." Als er sich umdreht, blickt er direkt in die dunklen Augen des Mannes, der ihm, nach dem Professor natürlich, am vertrautesten ist.
Neben dem zweiunddreißigjährigen Jurist steht Dorothea; ein angriffslustiger Ausdruck ziert ihr Gesicht, als Victor Isaac in die Arme schließt.
"Was machst du denn jetzt noch hier? Der Professor ..." Victors Miene wird dunkel.
"Ist weg? Ich weiß, aber ich wurde angewiesen, hier nach dem Rechten zu sehen. Tut mir leid, wenn ich euch bei was gestört habe." Frech grinsend sieht Isaac provozierend zu Dorothea.
"Für einen Zwölfjährigen bist du echt frech." Brummende Geräusche von sich gebend, verschränkt die junge Frau die Arme vor der Brust.
"Das hat er von seiner Mutter, du weißt doch, wie die immer drauf ist." Isaac ist sich nicht sicher, er glaubt aber gesehen zu haben, wie Victor in Richtung Dorothea gezwinkert hat.
"Das wird mir zu viel Geflirte. Ich gehe noch die anderen Labore durch, dann verschwinde ich wieder. Euch noch viel Spaß." Kurz überlegt Isaac und macht sich schon auf den Weg zur Tür. "Aber bloß nicht zu viel Spaß!", ruft er ihnen dann noch hinterher, bekommt aber nur unwilliges Gemurmel zurück.
Lachend rennt der Junge zum nächsten Labor und schaut, ob alles an seinem Platz ist und dass auch ja nichts fehlt.
Als er mit der Inventur aller Labore fertig ist, verlässt er das Gelände mit den Lagerhallen und steuert auf die Straße zu.
Natürlich gibt es in dieser Umgebung keine Straßenlaternen, sodass er allein und im Dunkeln seinen Weg zurück nach Hause finden muss.
So wie jede Woche seit der Professor weg ist, denkt er und setzt seinen langen, anspruchsvollen Weg fort.
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Hello 🤗,
mal wieder ein Kapitel zum Nachdenken, zu lange ist es ja her.
Noch eine kurze Info am Rande: Am Dienstag werde ich zwei Kapitel veröffentlichen und das Kapitel (Thirty Two) zweiteilen, einmal aus Carters und einmal aus Zachs Sicht.
Ich hoffe, dass ihr genauso aufgeregt seid, wie ich es gerade bin 😉.
Einen schönen Tag euch noch und bis Dienstag 😁.
Man liest sich (hoffentlich) 😊.
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Nobody | ✓
Teen Fiction-1. Teil der Social Distances Dilogie- -ABGESCHLOSSEN- Carter hat nicht nur mit seiner Intelligenz, sondern auch mit einem Wort, das andere Menschen Liebe nennen, zu kämpfen. Nur ist diese Liebe eben manchmal kein Wort, sondern ein Gefühl - und Gefü...