Warum sollte dieser Mann über meine Eltern reden wollen? Das ergibt für mich keinen Sinn.
Andersherum schon, denn wenn er Maryse von früher kennt, dann vielleicht auch meine Eltern. Möglich wäre das zumindest und außerdem das einzige, das halbwegs logisch klingt.
Trotzdem ist diese ganze Sitiation in diesem Moment ziemlich surrealistisch für mich. Er kommt hier herein, fordert Maryse dazu auf, mich zu holen und jetzt will er auch noch über meine Eltern reden, über die ich im letzten Monat schon mehr gesprochen habe, als in meinem gesamten Leben.
Ich verstehe den Anlass einfach nicht, aber vielleicht habe ich wieder nur etwas übersehen, dass die meisten Menschen als so selbstverständlich erachten, dass sie es schlicht weg ignorieren, ohne jemandem wie mir zu sagen, dass dieses Etwas überhaupt existiert.
Aber es ist doch so: Sonst, wenn man jemanden kennenlernt oder kennen lernen möchte, redet man mit dieser Person immer nur über das Wesentliche, kratzt an der Oberfläche eines ganz neuen Planeten, ja nahezu schon eines neuen Universums.
Denn jeder einzelne Erdbewohner hat in den Tiefen seines Gehirns ein solches Universum verankert; Fantasie ist hierbei das Stichwort.
Wie andersartig sich das anhört, dabei ist es gar nicht so weit hergeholt.
Man redet einfach nur normal und findet sich plötzlich in einer anderen Welt - der Gedanken- und Gefühlswelt seines Gegenübers - wieder.
Wie schnell das gehen kann erstaunt selbst mich immer und immer wieder. Irgendwie - auf eine ganz verworrene Art und Weise - komisch. Nicht lustig komisch, einfach nur komisch komisch.
Ich will eigentlich nicht über meine Eltern reden; das Thema ist privat und geht weder diesen Mann noch sonst irgendwen an, den ich nicht näher kenne.
Wo kämen wir denn hin, wenn ich jedem Menschen auf den Straßen dieser Kleinstadt meine gesamte Lebensgeschichte erzählen würde?
Womöglich wäre das ja aber sogar ein Schritt nach vorn, schließlich sieht man Menschen doch ganz anders, wenn man sie zu kennen glaubt, obwohl man sie nicht wirklich kennt.
Man ist von anderen geformt, wie eine selbsterfüllende Prophezeihung: Jemand sagt etwas zu dir und du tust aus Trotz das Gegenteil oder hörst darauf und machst das Gleiche.
Psychologisch gesehen ein wirkliches Wunderwerk; gestalten doch andere Menschen das Abbild unseres Gesichtes, während wir selbst ihnen einen Spiegel vorhalten - ohne zu merken, dass auch sie einen Spiegel in der Hand halten.
Es fasziniert mich immer wieder, wie oft sich ein geliebter Mensch verändern kann und man ihn schließlich noch genauso liebt wie vorher. Vielleicht sogar noch ein Stückchen mehr, weil man diese Veränderung möglicherweise selbst arrangiert hat.
Ein gutes Beispiel wäre hierfür Kathy. Noch vor ein paar Jahren hat sie sich monatlich die Haare abgeschnitten, sodass sie nicht einmal schulterlang waren. Ich habe dann einmal beiläufig erwähnt, dass ihr lange Haare wahrscheinlich viel besser stehen würden und seitdem hat sie brustlange Haare.
Das ganze ist hierbei noch milde - zumindest im Gegensatz dazu, was wir tagtäglich mit anderen Mitmenschen anstellen und welche Veränderungen, egal ob mental oder physisch, wir in ihnen hervorrufen.
Andersherum hat man von Menschen, die man einfach nicht kennen lernen will, vom ersten Moment an ein Bild im Kopf; immer wenn der Name dieser Person fällt, erscheint ein - meistens negatives - Bild vor unserem inneren Auge.
Liebe befreit uns also im weitesten Sinne von dem Bildnis, das wir uns über andere Menschen machen - einige bezeichnen das auch als Liebe macht blind.
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Nobody | ✓
Teen Fiction-1. Teil der Social Distances Dilogie- -ABGESCHLOSSEN- Carter hat nicht nur mit seiner Intelligenz, sondern auch mit einem Wort, das andere Menschen Liebe nennen, zu kämpfen. Nur ist diese Liebe eben manchmal kein Wort, sondern ein Gefühl - und Gefü...