𝔼𝕡𝕚𝕝𝕠𝕘𝕦𝕖

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Wie schnell ein halbes Jahr vergehen kann, merkt man erst, wenn es vorbei ist. Irgendwie komisch, dass alles und nichts in dieser langen Zeitspanne passiert ist, zumindest für mich.

Ich weiß nicht wie andere das sehen würden, ich sehe es so.

Sechs Monate - genau 182 Tage - später stehen wir jetzt hier, warten darauf, dass man uns unsere Abschlusszeugnisse präsentiert und versuchen innerlich bereits, Abschied voneinander zu nehmen.

Rachel Cavendish, die Schülersprecherin, tritt in ihrem schwarzen Talar auf den aufgebauten Podest und testet das Mikrofon, da es ihr vorbehalten ist, die Abschlussrede zu halten.

Kathy steht links neben mir, Daniel zu ihrer Linken und Benji zu meiner Rechten. Maryse befindet sich irgendwo im Publikum und ist in diesem Moment wahrscheinlich dabei, ihre Tränen mit einem Taschentuch zu trocknen.

Der Stoff des Talars ist unangenehm auf meiner Haut und das Publikum ist laut, aber ich kann mich noch zurückhalten, meine Nase zu jucken.

Rachel räuspert sich ins Mikrofon und fast sofort verstummen die Gespräche im Publikum. Dann lächelt sie, aber ich sehe, dass ihre Hände, die winzige Karteikarten festhalten, leicht zittern.

"Guten Tag liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern und liebes Publikum. Mein Name ist Rachel Cavendish, ich bin die Schülersprecherin des diesjährigen Abschlussjahrganges und ich möchte einige Worte sagen.

Zuallererst möchte ich unseren Lehrern danken, dass Sie alle uns eine so lange Zeit ertragen haben und uns, so weit, wie Sie konnten, unterstützt haben. Dass Sie alles für uns gegeben haben und Ihr Wissen mit uns geteilt haben, auch wenn wir Ihnen oft mit Unmut entgegengekommen sind. Vielen Dank.

In Philosophie haben wir einmal über das Schicksal geredet, über die Geraden und Ungeraden, die es bestreitet und welche Auswirkungen es auf unser Leben hat.

Ich bin der Meinung, jeder wird seinen, vom Schicksal bestimmten, Weg finden, einige von uns mit einem kleinen Ruck, andere aus völlig eigener Kraft.

Manche unserer zukünftigen Wege werden sich vielleicht kreuzen, andere werden wie Parallelen niemals den selben Punkt treffen.

Aber selbst wenn wir uns jetzt nie wieder sehen, alle auf verschiedene Schulen gehen und in verschiedenen Städten oder Ländern wohnen werden, wir werden uns trotzdem, und da bin ich mir zu hundert Prozent sicher, immer an diese Zeit jetzt zurück erinnern.

Denn jetzt wurden wir geprägt, wir bekamen eine Bedeutung. Wir wuchsen heran und jetzt sind wir erwachsen - oder behaupten zumindest, dass wir es sind. Innerlich sind wir alle noch Kinder, aber das ist völlig okay.

In Zukunft werden wir Freundschaften knüpfen, uns das eine oder andere Mal streiten und vielleicht eine Beziehung und spätere Ehe eingehen. Wir werden eine Bedeutung haben.

Also: Lasst uns unserer Zukunft gemeinsam eine Bedeutung geben!"

Der letzte Satz ihrer Rede geht fast in tosendem Applaus unter und zum ersten Mal seit Monaten bildet sich ein echtes Lächeln auf meinem Gesicht.

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"Und, wie sieht dein Notendurchschnitt aus?", fragt Daniel Kathy, als wir auf den überfüllten Parkplatz gehen. Benji ist bereits mit seinen Eltern losgefahren, vorher verabschieden konnte er sich aber zum Glück noch.

Ich dagegen halte nach meiner Tante Ausschau und nehme nur teilweise am Gespräch des Paares teil, das neben mir herläuft.

Seit Thanksgiving letztes Jahr sind die beiden zusammen und scheinen ein ganz gutes Paar abzugeben. Es ist nicht so, dass sie mich ausschließen, aber manchmal entziehe ich mich ihnen, wenn sie etwas unternehmen wollen.

Statt Maryse zu entdecken, mache ich Tristan in der Menge aus und fast sofort treffen sich unsere Blicke. Er steht neben seinem älteren Bruder und seiner Schwester, die ziemlich gesund aussieht.

Es könnte sein, dass er nach mir gesucht hat - eigentlich ist es sogar ziemlich wahrscheinlich -, denn er sagt etwas zu ihnen und kommt dann auf mich zu, indem er sich durch die Menschenmasse drängelt, versucht, mit seiner Größe niemandem wehzutun.

Immer noch Blickkontakt haltend, wedele ich mit meiner Hand vor Kathys Nase herum, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, da sie mit Daniel in einem angeregten Gespräch vertieft zu sein scheint.

Nach ein paar Sekunden bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie sie mich ansieht und weise deshalb zu Tristan, der immer noch dabei ist, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.

Sie pfeift durch die Zähne und umfasst Daniels Arm, um ihn von mir fort und weiter auf das Auto zu zu ziehen, mit dem wir zu viert - die beiden, Maryse und ich - hergekommen sind, und mich so außerdem in den Massen allein zu lassen.

Vielleicht laufen sie ja aber auch zu Cassidy und Malcolm oder zu Daniels Eltern, die wahrscheinlich aber nicht zusammen hergekommen sind.

Da der Platz sich langsam leert, wird es ein wenig übersichtlicher und Tristan hat es bei seinem Weg direkt ein wenig leichter. Schon zwei Miniten später steht er vor mir, in seinen Augen liegen Emotionen, die ich entweder nicht beschreiben oder nicht verstehen kann.

"Wir müssen reden." Drei Worte, die alles andere in den Schatten stellen. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch mitmachen kann.

Ich atme tief durch und sehe mich um, dann tätige ich eine allumfassende Handbewegung und erwidere: "Aber nicht hier. Lass uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört reden können."

Nickend folgt er mir und wir begeben uns hinter die Turnhalle, wo sich momentan niemand befindet - worüber ich ehrlichgesagt ziemlich froh bin.

"Jetzt ist es also vorbei." Die eigentlich beschwichtigend wirkenden Worte aus Tristans Mund zu hören, fühlt sich unangenehm an, das ist eindeutig ein schlechtes Zeichen.

"Ich denke, dass wir uns einig sind, dass sich dieser Satz nicht nur auf die High School bezieht, richtig?" Mein Blick gleitet ein weiteres Mal über sein Gesicht, das jetzt ein wenig verzerrt wird - vielleicht bereitet ihm der bevorstehende Abschied Trauer.

Dann nickt er, wahrscheinlich musste er sich lediglich einen kurzen Moment darauf vorbereiten.

Unschlüssig in der Gegend herum stehend und nicht wissend, ob ich ihn umarmen soll oder nicht schaue ich mich um - überall hin, nur nicht in sein Gesicht.

Dann fühle ich starke Arme um meinen Körper und spüre, wie er seinen Kopf auf meiner Schulter ablegt. Ich brauche keine Sekunde, um zu verstehen, was er tut und kann somit auch ziemlich schnell darauf reagieren, indem ich meine Arme ebenfalls um ihn schlinge.

"Ich werde dich vermissen", flüstert er in mein Ohr, aber ich nicke einfach nur. Ich spüre sein Lächeln an meiner Schulter, als ich ein letztes Mal - nur aus Reflex - durch seine kurzen, hellbraunen Haare fahre.

Dann lösen wir uns voneinander und ich bin ehrlich froh, dass er mich gehen lässt. Er hätte mich schließlich ausfragen oder verlangen können, dass ich den Rest des Tages bei ihm bleibe.

Doch stattdessen gehe ich einfach, ohne einen Blick zurück zu werfen. Für andere mag es so aussehen, als würde ich schlicht über einen Schulparkplatz laufen, aber für mich ist das der Anfang einer ganz neuen Epoche.

Ab jetzt werde ich nämlich leben.

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Sooo, das war's. Jetzt ist es vorbei. Und, I'm not gonna lie, ich heule 😥.

Nobody | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt