Berlin, 30. Dezember 2020
Sasa war mit der U-Bahn nach Prenzlberg gefahren. Gestern hatte sie abwechselnd mit weinen, aggressiv tanzen und essen verbracht. Felix war morgens gefahren, um später pünktlich am Flughafen zu sein. Ab dann war sie allein gewesen. Ihre Mutter und Kathrin mussten arbeiten und sonst wollte sie mit niemandem darüber sprechen. Es glich einem Wunder, dass ihr Wohnzimmer noch stand und nichts bei den Drehungen, Kicks und Armbewegungen zu Bruch gegangen war. Tanzen hatte dem reinen Frustabbau gedient. Keine Sekunde davon war produktiv, Sasa würde es niemals für Kurse nutzen können. Der Versuch würde wie gestern enden: Weinend auf dem Boden. Und das konnte sie im Kurs nicht tun. Privates hatte da nichts zu suchen oder jedenfalls nichts, das so tief ging. Zwischendurch hatte Sasa auch überlegt, sich zu betrinken, aber alleine trinken war in ihren Augen erbärmlich. Sie würde Silvester ausreichend Gelegenheit dazu haben.
Die Nacht zu heute hatte sie in Felix' Pullover geschlafen, um ansatzweise das Gefühl zu haben, sie würde in seinen Armen liegen. Wäre er vorgestern nicht bei ihr geblieben, hätte Sasa kein Auge zugemacht. Felix hatte eine Sicherheit und Ruhe ausgestrahlt, die sie in den letzten Jahren nur bei Neil empfunden hatte.
Sasa schub diesen Gedanken beiseite, weil sie vor dem Haus, in dem ihre Mutter wohnte, angekommen war. Die Treppen hoch in den dritten Stock versuchte sie sich auf die möglichen Antworten vorzubereiten. An der Tür wartete die Freundin ihrer Mutter auf sie. ,,Hallo Gudrun, ist Mama da?" ,,Agathe ist im Wohnzimmer. Ist was passiert? Du siehst nicht sonderlich fröhlich aus." ,,Ja, aber ich möchte es nicht zweimal erzählen. Du kannst dich dazu setzen, wenn du möchtest." ,,Ich koche dir erstmal einen Tee. Du brauchst was Warmes nach dem Weg hierher. Deine Mutter kann es mir auch später erzählen." ,,Danke, Gudrun." Sasa ging ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter auf dem Sofa saß und Fernsehen schaute. In ihr kamen Zweifel auf. Wollte sie die Fragen wirklich beantwortet haben oder die Begegnung verdrängen, zum Arzt gehen und dann weitermachen? Es blieb ihr keine Zeit mehr, um länger darüber nachzudenken, weil die Geräusche des Fernsehers verstummten.
,,Elli, ist was mit Felix passiert? Mit Neil, Emily, irgendeinem deiner Freunde?" ,,Nein." ,,Komm erstmal her. Du stehst da wie bestellt und nicht abgeholt." Sie setzte sich neben Agathe auf das Sofa und zog die Knie an ihre Brust. ,,Mein Vater stand vorgestern vor meiner Tür." ,,Dieser Mistkerl. Wir haben ihm immer gesagt, dass er dich in Ruhe lassen soll. Was wollte er?" ,,Mir sagen, dass er Darmkrebs hat, der vererbbar ist. Dann habe ich ihn weggeschickt und jetzt mache ich mir Vorwürfe." ,,Warum das denn?" ,,Weil ich nicht weiß, ob er damit allein ist oder Kinder hat, die jetzt ihren Vater verlieren. Wenn man krank ist, braucht man doch Leute, die einem beistehen." ,,Die einzige Person, die sich Vorwürfe machen muss, ist dein Vater. Du machst dir gerade mehr Sorgen um ihn als er jemals um dich." ,,Sowas ähnliches hat Felix auch gesagt." ,,War er da?" ,,Ja, wir haben den Tag zusammen verbracht. Kann ich dir eine Frage stellen?" ,,Immer." ,,Habe ich Halbgeschwister, von denen ich nicht weiß?"
,,Nein, nach dir hat er keine Kinder mehr bekommen. Elli, ich habe dir doch immer erzählt, dass ich deinen Vater vor die Entscheidung gestellt habe: Wir oder die andere Frau. Das stimmt so nicht ganz." ,,Wie meinst du das?" ,,Die neue Freundin deines Vaters wollte keine Kinder. Hugo eigentlich auch nicht. Bei Kathrin meinte er, dass wir eins schon hinkriegen werden. Als sie zwei war, fing er die Affäre an, aber da wusste ich es noch nicht. Solange es ging, habe ich die Schwangerschaft mit dir verheimlicht, weil ich Angst davor hatte, wie er reagiert." ,,Er hat dir aber nicht wehgetan oder so, als er es erfahren hat?" ,,Das hat er nicht. Hugo hat von seiner neuen Freundin erzählt und mir gesagt, dass er uns endgültig verlassen würde, wenn ich dich nicht zur Adoption aufgebe." ,,Und warum hast du es nicht?" ,,Elli, würdest du dich lieber um ein Kind kümmern, auf das du sich seit Monaten freust oder mit einem Mann zusammen bleiben, der seit über vier Jahren fremdgeht?" ,,Ich würde mich für das Kind entscheiden." ,,Siehst du. Das habe ich auch und es keine Sekunde bereut." Sasa fiel ihrer Mutter in die Arme. Sie hatte seit Ewigkeiten nicht so viel geweint, wie in den letzten drei Tagen.
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Schritt für Schritt
Любовные романыElisabeth "Elli" Schneider war sie für ihn. Sasa Woodwin ist sie für den Rest der Welt. Seit fünf Jahren stellt Felix sich die gleichen Fragen: Warum meldet Elli sich nicht mehr? Warum findet er nichts mehr über sie im Internet? War sie trotz der j...