01 |Unsichtbarsein

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Jeremy

Es waren viele Hilfeschreie die lauter nicht hätten sein können und die doch niemand hörte.

Die Frage, ob ich unsichtbar war kam mir schon oft in den Sinn. Es war egal, ob ich wie gerade den halben Alkoholbestand des Kiosk ausraubte oder ob ich mit einem Joint und einem Päckchen Kokain in der Tasche, an dem Polizeirevier vorbei spazierte. Niemand bemerkte mich. Manchmal war es vorteilhaft, doch meistens da war es einfach nur beängstigend. In der Schule war das ganze anders. Ich wurde respektiert, vielleicht auch nur weil sie mich fürchteten, aber das war okay. Das war gut so. Dann würden sie sich von mir fernhalten. So würde es auch in der neuen Schule ablaufen, die von mir erwartete das ich eine Therapie machte, um meine Aggressionen in den Griff zu bekommen, aber ich wusste noch nicht, ob ich mich darauf einließ. Die Schule gab mir zwar eine letzte Chance, weil sie anscheinend noch Hoffnung hatten, aber ich glaubte eher das sie das machten, um am Ende des Schuljahres sagen zu können, dass sie auch Problemfälle aufnahmen und das ihre Schule für Neulinge perfekt war. Ich wusste, dass das alles nur Show war, aber das alles war ich schon gewohnt.

Mit dem geklauten Alkohol verließ ich den alten, kleinen Kiosk und ließ mich einige Straßen weiter auf einer grün gestrichenen Bank nieder. Ich stellte die Flaschen neben mir ab und lehnte mich zurück. Aus meiner Jackentasche kramte ich meine Zigaretten und legte eine zwischen meine Lippen. Mit einem Feuerzeug, welches ich aus meiner anderen Jackentasche fischte, zündete ich das Stängchen zwischen meinen Lippen an und nahm einen kräftigen Zug. Nebenbei schnappte ich mein Handy und streifte durch die Nachrichten meiner Tante, bei der ich schon seit ich klein bin wohnte. Genau in dem Moment, indem ich ihre Nachrichten ignorieren wollte, fing mein Handy an zu klingeln und das Bild meiner Tante erschien auf dem Display. »Melissa?« hob ich ab und zog zugleich meine Augenbrauen zusammen. »Kannst du Zigaretten mitbringen?« fragte sie mich. Ich unterdrückte ein genervtes aufstöhnen und biss stattdessen meine Zähne zusammen. Konnte sie sich nicht selbst Zigaretten kaufen? »Ich habe kein Geld mit.« meinte ich knapp und starrte auf die glühende Zigarette zwischen meinen Fingern. Ein seufzen verließ meine Lippen und die Trauer versuchte sich wieder meine Kehle herauf zu klettern. »Dann Klau welche.« zischte sie und legte auf. Ich ließ mein Handy in meine Jackentasche versinken und nahm noch einen weiteren Zug meiner Zigarette. Für sie stahl ich doch nicht. Zumindest nicht mehr.

Ich packte die Flaschen, steckte sie irgendwie in meine großen Taschen und erhob mich von der Bank. Die Kippe ließ ich auf den Boden gleiten und trat drauf, um die kleinen Funken weg zu bekommen. Zu Fuß brauchte ich nur fünf Minuten bis zu mir, weshalb ich meinen Schlüssel heraus suchte und ihn in die alte Tür steckte. Ich wollte nur kurz meinen Alkoholvorrat auffüllen und musste dann weiter zu Ms. black, meine Therapeutin. »Abend« brummte ich in die keine Wohnung und hörte den Fernseher, der im Wohnzimmer stand und der mir verriet das Melissa zuhause war. »Hast du die Kippen?« rief sie mir zu. »Nein.« ich knallte die Tür hinter mir zu, drehte den Schlüssel, um ab zu schließen und ging zu meinem Versteck. Melissa würde meinen Alkoholvorrat leeren, wenn sie wusste wo ich ihn versteckte. Ich legte einige Bücher auf mein Bett, stellte den Alkohol in den Schrank und sortierte die Bücher wieder ein. »Dann gib mir deine Kippen, Jeremy.« Meine Tante klopfte an meine Zimmertür. »Nein.« mit großen Schritten ging ich zur Tür, schloss sie auf und öffnete sie mit Schwung. Melissa zuckte zurück und stemmte ihre Hände in ihre Taille. Ich ignorierte ihren bösen Blick und ging wieder aus der Wohnung raus. Da ich bis zu Ms. black 10 Minuten gehen musste, nahm ich mir eine Zigarette aus meiner Jackentasche und zündete diese an.

Vermutlich meinte Melissa es nicht einmal böse. Sie war selbst erst 33 und musste mich schon mit 25 Jahren ertragen. Geraucht hatte sie schon immer, aber die Alkoholabhängigkeit kam erst im laufe der Zeit. Wahrscheinlich durch mich. Ich war kein einfaches Kind und erstrecht kein einfacher Jugendlicher gewesen. Ich war immer noch anstrengend und nervig, weil ich nie das tat was man von mir verlangte. Nicht in der Schule und auch nicht in der Wohnung meiner Tante.

Ms. Blacks Praxis befand sich im reicheren Viertel, in einem großen Gebäude, welches sogar von meinem Zimmer aus zusehen war. Nach einigen Minuten stand ich vor dem eben benannten Gebäude und drückte auf die Klingel, mit der Aufschrift Praxis von Ms. Black. Ein Summen ertönte, weshalb ich gegen die Tür drückte, die Zigarette nach hinten schnipste und in das Treppenhaus hinein ging. Der Geruch des Neubau Gebäudes durchzog meinen Körper und ließ mich meine Nase rümpfen. Ich musste nur eine Treppe nach oben steigen, da stand ich auch schon vor einer schwarzhaarigen Frau, die mich freudig anlächelte. »Kommen sie doch rein, Mr. Parker.« sie stellte sich zur Seite, wobei ich an ihr vorbei ging. »Nur Jeremy.« brummte ich leise und drehte mich zu der Frau um. »Madeleine« sie lächelte noch immer, obwohl ich nicht wusste, ob sie das aus Freundlichkeit tat oder weil sie mich verunsichern wollte. »Am Ende des Flures ist mein Büro.« wir gingen an einer zierlichen Frau vorbei, die hinter dem Schreibtisch saß und etwas in den Computer tippte, weiter in ein helles, weiß eingerichtetes Zimmer. Das Büro von Madeleine Black.

Es sollte mir vielleicht Angst machen, weil das schlichte Büro irgendwie nichts beruhigendes an sich hatte, doch gerade das faszinierte mich an diesem Raum. Nur ein Bild sprang einem Bunt entgegen. Eines von Vincent Van Gogh. Sternennacht. Ein Kunstwerk, welches jeder kennen musste. Ob sie es gerade deshalb mochte? Ich ließ mich auf einen der Sessel nieder und beobachtete die blauäugige Frau, die sich gegenüber von mir hinsetzte und einen Block und einen Stift aus dem Schränkchen neben ihrem Sessel nahm. Ihr Blick richtete sich interessiert auf mich und ihre gezupften Augenbrauen hoben sich als wartete sie auf eine Antwort.

Aber ich hatte kein Ahnung was die Frage war.

Wie er das leben erlernteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt