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Jemand rüttelte sanft an ihren Schultern und flüsterte ihren Namen. Warum konnte Lizzy sie nie ausschlafen lassen? Verwirrt runzelte Ava die Stirn. 

Sie war nicht bei Lizzy in Anderson. Erschrocken schoss sie hoch und riss die Augen auf, als die Erinnerungen sie übermannten. 

Ethan, der ihr Seelengefährte war. Mia und ihre Schwester. Nico, Liza und das Rudel.

Jasper ihr Bruder. 

"Jasper...?", ihre Stimme klang rau und sie schluckte trocken. Ihr Bruder saß an der Wand gegenüber auf dem Boden. Den Kopf auf die verschränkten Arme gelehnt, wirkte er sogar schlafend angespannt und gestresst. 

"Er hat mir alles erzählt, bevor er eingeschlafen ist.", sie schaute zur Seite und blickte in Nicos sorgenvolles Gesicht. Unter seinem rechten Auge konnte Ava ein großes Veilchen erkennen, seine Lippen waren aufgeplatzt und ein gehetzter Ausdruck verdunkelte seine Augen. Sie spürte förmlich wie sein Wolf hin und her schritt und verzweifelt knurrte. "Nico, wo ist Liza?", ihre Hand zitterte als sie sacht seine Hand berührte, "Was ist passiert?".

Der Beta senkte seinen Blick auf ihre Hände und atmete zitternd aus. 

"Sie haben uns aufgelauert im Wald. Ich hab alles versucht, aber ich konnte sie nicht retten. Ava, sie haben sie mitgenommen. Sie haben meine Gefährtin verschleppt!", mit jedem Wort wurde seine Stimme lauter und verzweifelter und schließlich brach er in Tränen aus. Durch die Verbindung zum Rudel brachen seine Wut und Angst wie ein Sturzbach auf sei ein und sie zuckte keuchend zurück. "Oh nein.", verzweifelt legte sie die Hand an ihren Mund. Ihr Blick glitt ins Leere, als sie begann zu realisieren, was Nico ihr erzählt hatte. Als wäre es nicht genug, dass die Wybrancy sie angegriffen hatten, nein sie mussten ihnen allen etwas so wichtiges rauben. Plötzliche Aggression explodierte in ihren Gliedern und sie spürte ein lautes Knurren ihren Hals hinauf rollen. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und scherte sich nicht, um die anderen um sie herum. Ihr Bruder zuckte zusammen und stieß sich den Kopf an der Wand als er wach wurde. 

"What the fuck?! Kann man nicht einmal in Ruhe schlafen?", knurrte er und rieb sich fluchend den Hinterkopf. Als er realisierte, dass Ava wach war, sprang er auf und kam mit großen Schritten auf sie zu. Sorgenvoll blickte er sie an.

Gerade wollte er etwas sagen, aber Ava kam ihm zuvor. "Ruf alle Jäger des Rudels zusammen und versammel sie vor dem Haus. Wir gehen auf die Jagd." 

Dann marschierte sie ins Badezimmer. Ihr eigenes Spiegelbild ließ sie zusammen fahren. Ihre Wangen waren eingefallen, das Haar hing ihr stumpf und glanzlos über die Schultern. Lieblos flocht sie ihre blonden Strähnen zu einem lockeren Zopf und spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht. So ausgezehrt wie sie auch war, in ihrem Augen lag ein Glanz, von dem sie selbst nie gewusst hatte, dass er in ihr steckte. Das ungewohnte Gefühl der Macht durchströmte jede Zelle ihres Körpers. Seit dem Kampf und der Rückkehr ihrer Erinnerungen trennte sie nichts mehr von ihrer Natur. Sie spürte genau wo die Magie ihrer Mutter, einer mächtigen Opiekun in der Gestalt eines Hirsches, und die ihres Vaters, einem Werwolf, zusammentrafen. Anders als bei ihrem Bruder, waren bei ihr die Gene ihrer Mutter stets präsenter gewesen. Während Jasper als kleiner Junge lernen musste seine Wut zu kontrollieren, um nicht ungewollt im Supermarkt zu einem Wolf zu werden, hatte Ava gelernt die Tiere im Wald zu verstehen, Pflanzen wachsen zu lassen und geschickt die Menschen davon abzuhalten, zu tief in die Natur vorzudringen. 

Jeder Hüter konnte sich zur Tarnung und Täuschung in eine Tiergestalt verwandeln und zumeist spiegelten diese dann einen großen Teil der Seele wieder. Ihre Mutter war ein Hirsch gewesen. Ihre Großmutter ein Hase und sie wusste aus einer Erzählung ihrer Eltern, dass es einst einen Hüter gab, der sich in einen Wal verwandeln konnte. Aber allesamt verwandelten sie sich in sanfte Tiere, majestätisch und atemberaubend sollten sie den Menschen Ehrfurcht lehren. 

Ava hingegen verwandelte sich in einen Wolf. Ihr Fell hatte die gleiche, fast weiße Farbe wie ihre Haare und ihren Augen leuchteten strahlend blau. Magisch schien sie von innen heraus zu leuchten, so wie alle Opiekun. Nur mit dem Unterschied, dass sie ein Raubtier war. 

"Du bist etwas besonderes Ava. Ich spüre, dass du die Welt verändern wirst. Nutze deine Kraft weise."

Wie ein Mantra erfüllten sie die Worte ihres Vaters. Dann trat sie sicheren Schrittes aus dem Bad. Im Schrank fand sie schlichte schwarze Leggings und einen lockeren langen Pullover. Sie machte sich nicht die Mühe, Socken herauszusuchen oder Schuhe und Jacke anzulegen. Heute würde sie nicht als Ava, die Opiekun durch den Wald rennen, gehetzt und verfolgt. Es war an der Zeit den Worten ihres Vaters Bedeutung einzuhauchen.

Als sie bei den anderen ankam sah sie sich grimmig um. Neben Samantha, Nico, ihrem Bruder und Liam sah sie drei unbekannte Gesichter. Ein Mann mittleren Alters, gebaut wie ein Wikinger und mit mächtigem Bart. Seine strohblonden Haare fielen ihm offen bis auf den Rücken. Einige Strähnen hatte er geflochten und kleine Ringe mit Runen besetzt darin versteckt. Neben ihm stand ein schwarzhaariger Riese, der mit verschränkten, volltätowierten Armen und seiner Lederkluft alleine so furchteinlösend wirkte, dass es Ava gewundert hätte, wenn jemand ihn nur schief ansehen würde und zu guter Letzt eine groß gewachsene Frau. Die Gesichtszüge der amerikanischen Ureinwohner, die zweifelsohne in ihren Adern tief verwurzelt waren, ließen sie majestätisch wirken. Jeder von ihnen strahlte die tödliche Präzision aus, die Ava sich wünschte. 

Durch das Band in ihrem Inneren spürte sie ihren Gefährten, der auf sie zukam. Sie brauchte keine Worte von ihm zu hören, um zu wissen, was er dachte. Er wollte sie in Sicherheit zu Hause beim Rudel wissen. Aber er wusste auch, dass sie es war, die das hier tun musste. Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange bevor er sich an seine Leute wandte.

"Auf geht's. Lasst uns diesen Arschlöchern zeigen, was es bedeutet sich mit dem Midnight Rudel anzulegen!"

Still nickten die Jäger ihrem Alpha und ihrer Luna zu als sie ihnen schweigend in den tiefschwarzen Wald folgten.

Vom Mond geküsstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt