Loslassen ist schwer

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ROSA

„Du musst das, was passiert ist, loslassen, m'ija."

***

„Kannst du mir mal den Hammer reichen, m'ija?", fragt Papa mich, ohne den Blick von der Stelle zu nehmen, die er verstärken muss. Ich stehe neben der Leiter und schaue über den kleinen Beistelltisch, auf dem die Werkzeuge liegen, die er heute braucht.

Als ich den Hammer gefunden habe, reiche ich ihn meinem Vater, der auf dem vierthöchsten Tritt steht, und sich in einer waghalsigen Bewegung zu mir hin dreht.

Ich bin echt überrascht, wie schnell er das ganz allein alles aufgebaut hat. Jeden Tag steht er in aller Herrgottsfrühe auf, fährt hier raus und beginnt zu arbeiten. Pausen erlaubt er sich nicht viele, doch immer wieder kommen Mitglieder der Estrallas zu ihm und bringen etwas zu essen mit, oder bieten Papa ihre Hilfe an. Die er dankbar annimmt, oder freundlich ablehnt.

Ich bin das erste Mal hier, bin ihm aber keine große Hilfe. Zumindest kommt es mir so vor. Das Hämmern sticht sich in meinen Kopf, doch wirklich bewusst nehme ich es nicht wahr. In der letzten Zeit hänge ich mit meinen Gedanken irgendwo in der Luft, die mich doch nicht wirklich weiterbringen.

Mein Job in der Kanzlei in Miami habe ich gekündigt. Mein Chef hat sich zwar kulant gezeigt, als er erfahren hat, warum ich nicht zur Arbeit erschienen bin. Aber ich konnte nicht mehr dorthin zurück und habe deswegen das Angebot abgelehnt.

Das habe ich noch niemandem erzählt. Wieso auch? Sie gehen alle davon aus, dass mir gekündigt wurde und es macht auch keinen Unterschied, wenn ich es richtig stellen würde. Aber was ich jetzt mit meinem Leben anfangen möchte, weiß ich auch nicht.

Den Abschluss kann mir niemand wegnehmen, immerhin etwas. Ich kann also auch hier eine Arbeit in einer Kanzlei finden. Die Frage ist viel mehr; will ich das überhaupt?

Ich meine Anwältin sein. Viel Glück hat es mir nicht gebracht und den wenigen Menschen, die ich vertreten habe -erfolgreich muss man betonen – verändern auch nichts. Sicher, ihnen wurde geholfen, Gerechtigkeit verschafft und ich habe sie vor dem Gefängnis bewahrt.

Doch was habe ich davon? Das klingt jetzt vielleicht furchtbar egoistisch, aber was haben mir die Gewinne vor Gericht gebracht? Okay, ein bisschen Anerkennung innerhalb der Kanzlei und mein Gehalt, den Dank der Mandanten. Aber sonst?

„M'ija?", reißt mich Papas besorgte Stimme aus meinen Gedanken. Blinzelnd stehe ich da und weiß nicht, was er von mir will. Ich will mich umdrehen, ihm eines der vielen seltsam aussehenden Werkzeuge reichen, doch er hält mich auf.

Seine große, warme und schwielige Hand schließt sich um meinen immer noch zu dünnen Unterarm und hindert mich daran mich zu drehen. Zuerst will ich ausflippen, denn die Panik, die sich in Rekordzeit in mir ausbreitet, ersetzt das rationale Denken, doch ich kann mich beruhigen, bevor es ausbricht.

Vielleicht liegt es auch daran, dass es mein Vater ist, der mich berührt und ich es auch völlig anders wahrnehme. Aber vielleicht auch an seinem schmerzerfüllten Ausdruck, den ich in seinen Augen lesen kann und der mir die Luft abschnürt.

„Ich denke, wir sollten uns etwas die Beine vertreten", meint er und lächelt liebevoll. Ich nicke, obwohl sich meine Füße nicht von der Stelle bewegen wollen.

Als wären sie am Boden festbetoniert worden und niemand würde etwas daran ändern können.

Doch er nimmt mich an der Hand, sanft, aber bestimmt und so gehe ich ein paar Schritte. Meine Knie schlottern etwas, doch sie beruhigen sich nach einer Weile, genau wie mein außer Kontrolle geratener Herzschlag.

Gangs of Sinaloa - Cruel LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt