23. Kapitel (Teil 2)

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Das hat Jack dir schon gesagt“, stellt sie fest. „Du greifst danach und ziehst sie an dich heran.“

Und wie leite ich sie weiter?“, dränge ich. Langsam geht sie mir auf die Nerven.

Tu es einfach. Du weißt, wie man es macht, sobald du soweit bist.“

Undeutlicher geht’s ja wohl kaum. Aber ich werde mein Bestes geben.

Mental strecke ich meine Hand nach dem grünen Schein aus. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Mein Körper vibriert im Einklang mit dem Baum. Mein Herz gleicht seine Geschwindigkeit dem Pulsieren der Eiche an.

Und dann ziehe ich. Ich zerre und reiße an den feinen Linien. Ich sehe, wie die Lichtadern über meinem Kopf langsam dünner werden. Mein Herz wird immer langsamer. Ich höre das Pochen in meinen Ohren. Mir wird heiß. Ich habe das Gefühl zu explodieren. Mein Herz stolpert über den nächsten Schlag.

DU MUSST ES WEITERLEITEN!“, schreit etwas panisch in meinem Kopf. „Konzentriere dich!“

Ich höre mein Herz nicht mehr. Ich höre mein Blut nicht mehr rauschen. Ich schmecke Metall. Ich rieche Eisen. Warme Flüssigkeit rinnt über meine Wangen. Ich verglühe von innen.

„Roxan, hör auf!“, brüllt jemand von außen.

Ich kann nicht. Ich kann nicht aufhören. Ich muss Annika helfen. Das alles ist meine Schuld! Meine verdammte Schuld! Ich muss weiter machen.

Leite die Energie weiter! Das ist zu viel!“ Jetzt wieder die Stimme in meinem Kopf.

Mein Herz stolpert noch einmal. Meine Hand auf Annikas Wange. Darauf fixiere ich mich. Die weiche, eiskalte Haut an meiner glühend heißen. Die Hitze breitet sich in meinem Arm aus. Bündelt sich. Schießt blitzartig von mir in Annika.

Ich spüre sie zucken. Noch ein grüner Blitz. Und ein weiterer. Die warme klebrige Flüssigkeit fließt jetzt auch aus meiner Nase. Ich mache weiter. Mein Kopf steht in Flammen. Meine Brust ist Nahrung für das Feuer. Durch meine Adern wallt sengende Lava.

Es reicht.“ Die Stimme dringt nur gedämpft und leise zu mir durch. Wie unter Wasser. Meine Hand rutscht kraftlos von Annikas Wange. Bricht den Kontakt ab.

Ich kippe nach hinten. Liege direkt neben der ehemalig prächtigen Eiche. Da ist kein grünes Licht mehr. Kein Pulsieren. Kein Vibrieren. Kein Leben. Ich atme einmal tief ein. Dann werde ich aus meinem Körper gerissen.

Los komm!“, ruft Annika mir lachend entgegen.

Um uns herum breitet sich ein Meer von orange angestrahlten Dächern aus. Über uns brennt der Himmel. Der Sonnenaufgang wirft dunkle Schatten in den Gassen unter uns. Die Tonziegel unter meinen Füßen klappern bei jeder Bewegung.

Annika steht auf der anderen Seite einer dieser dunklen Schluchten. Ein weißes fließendes Kleid umweht sie. Ihre langen blonden Haare peitschen ihr ins Gesicht. Die Morgensonne lässt sie strahlen, wie einen Engel. Zu schön, zu frei, zu glücklich um wahr zu sein.

Willst du sie etwa gewinnen lassen?“, fragt sie immer noch grinsend.

Eher würde ich sterben!“, erwidere ich lachend.

Das ist mein Mädchen!“, höre ich noch bevor sie sich umdreht und ihren Weg über die rot-goldenen Dächer fortsetzt.

Ihr Lachen. Die Wildheit in ihren Augen. Die Freude auf ihrem Gesicht. Der Wind in ihren Haaren. Die Sonne auf ihrem Gesicht. Sie ist die Personifizierte Freiheit.

Die letzte ErbinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt