10. Kapitel

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Richter Owen redet und redet und redet. Danach redet er weiter. Aber ich verstehe nichts. Alles was ich höre ist mein keuchender Atem.  Mir fällt auf, dass ich doch den Kopf abgewendet haben muss. Jetzt blicke ich auf Holz. Sie haben meinen Schädel losgelassen. Ich stelle keine Bedrohung dar, also ist das unnötiger Kraftaufwand.

Keine Ahnung wie viel Zeit vergeht. Sekunden, Minuten, Stunden. Oder vielleicht Tage? Ich bete nur, dass es bald vorbei ist. Doch dafür muss es erst beginnen…

Ich glaube, Richter Owen hat aufgehört zu reden, leider. Jetzt ist Terence dran. Mir egal. Ja, wirklich. Er besiegelt mein Schicksal, na und? Wen interessiert´s. 

Ich weine immer noch. Meine Schluchzer bleiben mir in der Kehle stecken. Ich wünschte, ich könnte das Atmen einstellen und dem hier entfliehen. Einfach weg. Alles ist besser als das. Die Hölle nach dem Tod? Immer her damit. Das große, allumfassende Nichts? Noch besser! Ein neues Leben? Schlimmer könnte es nicht sein. Ich will nur ein einziges Mal noch meine Schwester sehen. Meine kleine Schwester. Lavinia. Ich habe ihr nicht oft genug gesagt, wie sehr ich sie liebe. Ich habe ihr nie erzählt, was meine erste Erinnerung an sie ist. Ich habe ihr nie die richtigen Fragen gestellt.

Was ist deine Lieblingsfarbe? Gibt es da Jungs in der Schule, die du süß findest? Möchtest du mal heiraten? Was findest du besser, Hunde oder Katzen? Wie würdest du dein erstes Kind nennen? Kannst du dich an deinen Dad und deinen Bruder erinnern? Was ist dein Lieblingsessen? Gefällt dir der Sommer oder der Winter besser? Oder Frühling oder Herbst? Weißt du, wie sehr ich dich liebe? Weißt du, dass du ALLES und mehr für mich bist? Hast du mich lieb? Wirst du mich noch lieb haben, wenn ich geh´?

Ich will die Fragen in die Welt hinausschreien, bis ich keine Stimme mehr habe. Ich will die Fragen so oft in Wände ritzen, bis meine Hände bluten. Und dann weiter. Ich werde sie nicht wiedersehen. Egal was kommt, ihre letzte Erinnerung an mich wird sein, wie ich mich auf dem Schulhof vor sie gestellt habe. Es könnte schlimmer sein. Meine letzte Erinnerung an sie wird sein, wie ich an ihrem Bett gekniet habe und sie geheilt habe.

Was waren meine letzten Worte zu ihr? „Es ist vorbei“, habe ich gesagt.

Es ist vorbei.

Es ist vorbei.

Es ist vorbei.

Es ist vorbei.

Es ist vorbei.

So viele verschiedene Aussagen in einem Satz. Unsere gemeinsame Zeit ist vorbei. Meine Zeit zu lächeln ist vorbei. Die Zeit, in der wir an Gott geglaubt haben, ist vorbei. Mein Leben ist vorbei.

Es ist vorbei.

Wie grausam, dass ihr Schmerz, der in diesem Moment gemeint war, zu dem Zeitpunkt erst begann. Sie wird doch trauern, wenn ich tot bin, oder?

Aller Schmerz, den ich bis zu diesem Tag erlitten habe und erdulden musste, ist unbedeutend. Ein Tropfen Wasser auf heißem Stein. Ich würde alles geben, um sie noch ein einziges Mal lächeln zu sehen. Jetzt verabschiede ich mich von ihr.

Die letzte ErbinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt