9. Kapitel

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Ein sehr schlauer Mann hat einmal gesagt, dass die Zeit relativ ist. Ich habe nicht alles von dem verstanden, was zu diesem Thema gesagt wurde. Aber ein bisschen was ist hängen geblieben. Und es gibt viele verschiedenen Theorien über die Zeit. Eine hat mich besonders fasziniert.

Wenn man zum Beispiel Angst hat, also Adrenalin ausgeschüttet wird, kommt es uns vor, als würde die Zeit in Zeitlupe laufen. Alles verlangsamt sich.

Im Gegensatz dazu hat man das Gefühl, die Zeit würde rasend schnell vergehen, wenn man etwas Schönes erlebt. Wie der Knopf zum Vorspulen auf einer Fernbedienung. Alles vergeht wie im Rausch und wenn es vorbei ist, fragt man sich bloß: Hey, was war das gerade?

Von dieser unterschiedlichen Wahrnehmung sind - meiner Erfahrung nach – die eigenen Gedanken ausgenommen. Sie stellen einen krassen Gegensatz zu dieser Theorie. Wer in Panik verfällt hat tausend Gedanken, Fragen und Möglichkeiten auf einmal im Kopf. Bei einem schönen Erlebnis, wo die Zeit schnell vergeht, ist der Kopf wie leer gefegt. Alles konzentriert sich auf einen speziellen Punkt. Das eigene Wohlbefinden.

Das ist auch der Grund, weshalb uns schlimme Dinge länger beschäftigen, während glückliche Erinnerungen immer mehr verblassen. Wenn man versucht, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie einem das erste Fahrrad geschenkt wurde, ist diese Erinnerung schwer zu fassen, wenn man sie überhaupt findet. An den ersten bösen Sturz allerdings, erinnert man sich meist sehr schnell. Natürlich ist das ein einfaches Bespiel für diese sehr komplexe Sache. Und es gibt immer Ausnahmen.

Aber Ausnahmen bestätigen die Regel, sagt man ja.

Als ich hier vor diesen vier Männern stehe, mit nichts als einem winzigen Stofffetzen am Leib, fängt die Zeit an sich zu verlangsamen. Ich mache mir Gedanken über die unterschiedliche Wahrnehmung der Zeit und philosophiere, während nur wenige Sekunden vergehen.

Es geht los. Owen und Terence sind gekommen um mich zu holen. Ich sollte Angst haben. Habe ich Angst? Die Zeit hat sich ja schon verlangsamt, also muss es so sein. Oder bin ich vielleicht eine der wenigen Ausnahmen?

„Hey Rox, ich melde mich zurück. Zu zweit können wir den Laden sicher aufmischen!“, ruft mein zweites Ich in diesem Moment. Sie bereitet mir Unbehagen, ist für meinen Geschmack viel zu aufgeregt und gut gelaunt. Aber wenigstens denke ich nicht mehr über die Zeit nach.

„Was schlägst du vor; Miststück?“, frage ich stumm. Ich will sie nicht beleidigen, aber diese Bezeichnung hat sich in meinem Kopf festgefahren.

„Schau dir mal Terence an“, weist sie mich an. Ich zögere kurz. Gestern hat er mir einige üble Drohungen entgegen gebrüllt. Von wegen, ich solle ihn nicht mehr ansprechen, ansehen oder an ihn denken. Auf eine Wiederholung von gestern kann ich eigentlich gut und gerne verzichten. Aber ich habe eine Leidenschaft, die mich ständig in Schwierigkeiten bringt. Leute Provozieren. Verbiete mir etwas und ich mache genau das Gegenteil.

Also schaue ich ihn an. Sein Gesicht ist wutverzerrt. Und die Augen… die Augen könnten Metall einschmelzen. Seine Arme sind angespannt. Ich kann die Hände nicht sehen, aber ich wette, sie sind zu Fäusten geballt.

Die letzte ErbinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt