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Marinette nahm den letzten Schluck aus ihrer Kaffeetasse - schon die dritte an diesem Tag - und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Es war schon nach fünfzehn Uhr und der Stapel an Schulaufgaben war gefühlt noch kein Stück kleiner geworden.
»War das wirklich eine gute Idee, Cat Noir zu versprechen, dass du heute noch mal vorbeischaust?«, fragte Tikki vorsichtig nach.
Sie saß auf dem Rand von Marinettes Computerbildschirm und hatte sie in den vergangenen Stunden beim Arbeiten beobachtet.
»Ich hatte doch keine Wahl. Ich kann nach dieser Nacht nicht wieder tagelang verschwinden.
»Und wie willst du all das schaffen?«
Marinette seufzte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
Die Vorbereitungen für die Überraschung hatten sie in der vergangenen Woche deutlich mehr Zeit gekostet, als sie zur Verfügung gehabt hatte.
Das Besorgen der Eintrittskarten, das Basteln der Masken, das Einkaufen der Kleidung - die Schulaufgaben waren dabei völlig zu kurz gekommen.
Neben jeder Menge Hausaufgaben standen in der kommenden Woche drei große Tests an, für die sie noch lernen musste.
Es war die letzte Woche vor Weihnachten und wie jedes Jahr hatten die Lehrer kein bisschen Verständnis dafür.
Und dazu kamen mehrere Geschenke, die sie noch besorgen musste.

»Ich muss mich ja nicht lang mit Cat Noir treffen.«, meinte Marinette.
»Ich schau einfach kurz vorbei, komm dann gleich wieder zurück und erledige die restlichen Schulsachen.«
»Und das traust du dir tatsächlich zu?«, fragte Tikki skeptisch. »Nur mal kurz vorbeizuschauen
Ihr forschender Blick brachte Marinette dazu, ehrlich mit dem Kopf zu schütteln.
»Aber ich vermisse ihn so sehr! Ich will bei ihm sein.«
Tikki lächelte mitfühlend und setzte schon an, etwas zu erwidern, als Marinette eine Idee kam.
»Ich könnte doch auch in unserer Wohnung weiterlernen!«
Tikki reagierte nicht halb so begeister wie sie.
»Du willst deine Schulsachen mit zu Cat Noir nehmen? Deine Hefter und Bücher und Karteikarten, wo überall dein Name draufsteht?«
»Das bekomme ich schon hin.«
Marinette sprang von ihrem Stuhl auf und ging hinüber zu ihrem Schrank.
Eifrig begann sie in einer der Schubladen zu kramen.
»Hier muss doch noch irgendwo ...«, murmelte sie, und kurz darauf zog sie zwei schlichte, weiße Aktenordner hervor.
Mit einem begeisterten Lächeln reckte sie sie in die Luft.
Ihre Bewegung war dabei so überschwänglich, dass sie mit den Ordnern gegen eine kleine Pappkiste stieß, die hinter ihr auf dem obersten Regalbrett stand.
Die Kiste kippte nach vorn, fiel Marinette auf den Kopf und ergoss ihren Inhalt über den halben Zimmerboden.
»Aua!«
Sie rieb mit der Hand über die Stelle an ihrem Kopf, wo sie getroffen worden war.
Erst dann bekam sie mit, was in der Kiste gewesen war.
Adrien lächelte ihr von ihrem Fußboden entgegen. Dutzendfach.
Die kleine bunte Pappkiste hatte jedes einzelne Foto enthalten, dass sie jemals von ihm ausgedruckt oder aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte.

Marinette stand einfach nur da und starrte auf die vielen Bilder hinab.
Es war ein absolut seltsames Gefühl, an die ehemalige Gestaltung ihrer Zimmerwände erinnert zu werden.
Warum nur hatte sie die Bilder nicht längst weggeschmissen?
Vermutlich, weil sie sie schon allesamt abgenommen gehabt hatte, bevor es überhaupt zu dem Liebeskummer gekommen war.
Und danach war ihr der Gedanken nie gekommen.
Sie hatte tatsächlich vergessen, dass es diese Kiste gab.
Nun an die extreme Ausprägung ihrer Schwärmerei erinnert zu werden, fühlte sich nicht nur seltsam an, sondern auch ziemlich unangenehm.

Endlich überwand sie ihre Starre, kniete sich auf den Boden, und begann hastig, die Bilder zurück in die Kiste zu räumen.
»Was hast du jetzt damit vor?«, fragte Tikki.
»Was wohl? Ich werde sie wegschmeißen.«
Marinette erhob sich vom Boden, kontrollierte, dass sie nichts übersehen hatte, und machte dann den Deckel auf die Schachtel.
»Das hätte ich schon längst tun sollen.«, fügte sie leise hinzu.
Sie warf Tikki noch einen kurzen Blick zu und meinte in normaler Lautstärke: »Warte ruhig hier. Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging hinüber zu der Luke im Boden und stieg die Treppe nach unten.
Sie durchquerte die leere Wohnung, verließ sie durch die Eingangstür und eilte mit schnellen Schritten die nächste Treppe nach unten.
Sie wollte die Kiste so schnell wie nur irgend möglich, loswerden.
Doch sie hatte es zu eilig.
Fünf Stufen vor Ende der Treppe stolperte sie über ihre eigenen Füße.
Mit einem lauten Poltern stürzte sie zu Boden und schrie dabei laut auf.
Die Pappkiste segelte ihr aus der Hand und zum zweiten Mal in wenigen Minuten regnete es Adrien-Bilder.
»Marinette!«
Ihre Mutter kam aus der Backstube gestürzt.
Marinette wusste nicht, was mehr wehtat: Ihr Knöchel und ihre Schulter, oder ihr Stolz.
»Hast du dich verletzt?«, fragte ihre Mutter und kniete sich neben sie.
Marinette rieb sich die Schulter und verzog das Gesicht, schüttelte aber den Kopf.
»Bist du dir sicher? Das klang ziemlich schlimm.«
»Alles gut. Ich bin nur dumm gestolpert.«
Sie griff nach dem Treppengeländer und zog sich daran nach oben.
Als ihre Mutter sah, dass es ihr tatsächlich gut zu gehen schien, grinste sie leicht.
»Ich dachte eigentlich, die Zeit, in der du ständig gestolpert bist, läge endgültig hinter uns.«
»Dachte ich auch.«
Marinette lächelte verlegen zurück.
Dann sah ihre Mutter hinab auf die unerwünschte Fotocollage auf dem Fußboden und die Verlegenheit steigerte sich ins Unermessliche.
»Was hattest du denn damit vor?«, fragte ihre Mutter mit hochgezogener Augenbraue.
»Entsorgen.«
Zum zweiten Mal stürzte Marinette sich auf Adriens Bilder und sammelte sie, so schnell sie konnte, vom Boden auf.
Als sie damit fertig war und ihre Mutter wieder ansah, hatte diese einen einfühlsamen Ausdruck auf dem Gesicht.
»Gibt es einen bestimmten Grund, warum die Bilder ausgerechnet heute entsorgen willst?«
Marinette schüttelte den Kopf.
»Ich hab sie nur zufällig wiedergefunden. Keine Ahnung, warum ich sie überhaupt aufgehoben habe, nachdem ich sie abgenommen hatte.«
Ihre Mutter legte den Kopf schief und sah sie weiter direkt an.
Sie sagte nichts, trotzdem hatte Marinette das Gefühl, sich verteidigen zu müssen.
»Im Rückblick war es ganz schön verrückt, dass ich so viele Bilder von ihm an meiner Zimmerwand hatte.«
Ihre Mutter lächelte sanft und meinte: »So ist das, wenn man verliebt ist: Man macht verrückte Sachen.«
Marinette spürte, wie sie rot wurde.
Ihr fiel keine Erwiderung ein.
»Wie ist das so für dich, ihn jeden Tag zu sehen?«
Ihre Mutter schien in der Stimmung für ein vertrauliches Mutter-Tochter-Gespräch zu sein.
»Er geht doch noch in deine Klasse, oder?«
»Ja, tut er. Aber das ist kein Problem. Wir sind befreundet und für mich ist das völlig in Ordnung.«
Sie bemühte sich um einen lockeren, entspannten Gesichtsausdruck, doch ihre Mutter wirkte nicht überzeugt.
Noch immer sah sie sie eindringlich an. Und nun legte sich noch ein leicht trauriger Zug um ihre Mundwinkel.
»Marinette-Schatz, es ist in Ordnung, wenn man nicht mit jedem einzelnen Menschen befreundet ist, mit dem man in seinem Alltag zu tun hat.
Wenn seine Gegenwart dir wehtut, darfst du seine Gesellschaft meiden. Das hat nichts mit Unhöflichkeit zu tun.«
»Aber so ist es gar nicht. Ich habe kein Problem damit, in seiner Nähe zu sein.«
»Pass bitte auf dich auf, ja? Du bist immer so nett und stellst deine eigenen Gefühle zurück. Ich will nicht, dass du verletzt wirst!«
»Alles gut, maman.«
Sie umarmte ihre Mutter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Adrien liegt hinter mir und ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben, so, wie es ist.
Ich bin glücklich.«
Zumindest der letzte Satz war die volle Wahrheit und ihre Mutter schien das zu spüren. Sie erwiderte ihr Lächeln.
»Es gibt wohl nichts, was eine Mutter lieber von ihrer Tochter hört.«

Miraculous - Endlich vereint (FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt