Die Nacht war hereingebrochen. Bis auf ein paar Strahlen Mondlicht war es dunkel im Raum. Die Gardinen wehten in den seichten Stößen der Abendluft, welche hereintrat wie alte Freunde in die Bar, die vor 20 Jahren einst ihre Stammkneipe gewesen war. Natasha saß am Kopfende ihres Kingsized Bettes und starrte auf die schlafende Eleanor. Diese lag neben ihr, die schwarze Bettdecke bis zur Hüfte über sich geworfen, den Rest nur von einem dünnen T-Shirt bedeckt. Die Schatten der Verbände um ihre Unterarme zeichnete sich auch im dünnen Mondschein ab. Eine Träne rollte Natashas Wange herunter und fiel still auf die Decke neben ihr.
Die sonst so starke Russin vergrub ihr Gesicht im T-Shirt der neben ihr Schlafenden. Sie schluchzte einmal laut und rollte sich in die Arme ihrer Freundin. Weiterhin rollten ihr Tränen über die Wangen. Um nicht noch einmal aufzuschluchzen und dabei möglicherweise Ellie zu wecken, presste Nat ihre Hand auf ihren Mund. Doch Ellie war schon wach. So gut es ging, zog sie Nat an sich heran und streichelte ihr über die Haare.
"Ich hatte so Angst um dich", presste Nat hervor. "Die zwei Tage waren Hölle. Ich hatte vier Panikattacken und das einzige, was geholfen hat, nicht völlig durchzudrehen, war zu tanzen, bis ich zusammengebrochen bin. Dabei hatte ich Clint versprochen, dass würde ich nicht mehr tun. Überhaupt war ich schon seit Jahren nicht mehr in diesem kleinen russischen Tanzstudio. Aber ich wusste einfach nichts anderes mit mir anzustellen. Und dann konnte ich noch nicht mal bei der Suche helfen. Ich hab dich so im Stich gelassen, ich-", und dann brach sich ab, weil ihr die Luft ausgegangen war und ihre Stimme wegbrach.
Die Beiden setzten sich auf und Eleanor wiegte Natasha hin und her, um sie zu beruhigen. Wieder und wieder streichelte sie ihr über die Haare und über den Rücken.
"Shh, Liebling. Alles wird gut, Baby. Du hast mich überhaupt noch nie im Stich gelassen, okay? Ich bin hier. Mir geht's gut. Und Wanda meinte, du bist auf die Idee gekommen, das Handy zu orten, mh? Alles ist gut, shh", flüsterte Ellie.
Als Nat sich beruhigt hatte, legte sie ihren Kopf auf Eleanors Oberkörper ab, wobei diese Kreise und andere Formen mit ihrem Finger auf Nats Rücken malte.
"Hey, ich hab 'ne Idee. Lass uns für ein paar Wochen abhauen; das Land verlassen. England vielleicht?", schlug Natasha schlaftrunken vor. Es war eine Schnapsidee, aber sie meinte es ernst.
"Liebling, ich glaube, das sagst du nur, weil du müde bist und dich ein wenig in die ganze Situation hereinsteigerst. Wobei, eigentlich wäre es gar nicht so schlecht, oder? Ich kenn da einen schnuckligen kleinen Ort in der Nähe von London. Vielleicht sollten wir wirklich ein bisschen woanders hin. Ach, was erzähl ich denn?", wunderte sich Ellie schließlich, weil der Vorschlag mehr eine Vorstellung mitten in der Nacht war und ihre Zustimmung vermutlich aus den Beruhigungsmitteln herrührte als dass es eine wirkliche Idee wie bei Tageslicht war. Es wirkte unrealistisch.
"Denk drüber nach", säuselte die Nat noch, bevor sie einschlief. Auch Eleanor war bald eingeschlafen, aber vorher durchdachte sie noch einmal den eben gemachten Vorschlag. Auch sie hatte Angst. Aber sie wollte es nicht zeigen, Nat nicht noch mehr beunruhigen, obwohl sie sich fragte, wie lang sie die Deckung noch oben halten könnte.
Da sie mittlerweile nicht mehr auf so starken Schmerzmitteln war, fühlte sie wieder jeden Teil ihres Körpers. Wenn jemand sie am Arm griff, musste sie sich einen Aufschrei verkneifen. Wenn Leute sie umarmten, wollte sie anfangen zu weinen, weil selbst die kleinste Berührung ihrer Rippen schmerzte. Trotzdem ließ sie Natasha gerade auf sich liegen.
Ihre Nase war mittlerweile fast schmerzfrei, wenn man sie nicht berührte, aber das war auch das einzige.Bisher hatte sie ihre Verbände noch nicht gewechselt, sie war ja auch erst seit gestern wieder hier, aber sie wusste, morgen würde sie das tun müssen. Sie hatte Angst, sich ihre Verletzungen anzusehen, aber noch mehr davor, dass Natasha das tun würde und sie dann abstoßend fände.

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All die einsamen Leute
Fanfiction„Als ich dich sah, verfiel ich dir. Und du fingst an zu lächeln, weil du es wusstest." plot: Eleanor ist 21 Jahre alt und arbeitet in einem New Yorker Buchladen. Eines Tages trifft sie eine bezaubernde junge Frau, die, wie sie später erfährt, zu den...