In der Nacht wurde Ilèyn weiter von Albträumen und bösen Erinnerungen gequält, welche sich in ihre Gedanken fraßen.
Irgendwann hatte sie aufgegeben, weiter schlafen zu wollen und mit leerem Blick an die Decke gestarrt.
Wenn sie genau darüber nachdachte, war sie auch gar nicht müde. Sie müsste eigentlich erschöpft sein, doch sie wollte keine Erschöpfung zeigen. Sie müsste eigentlich traurig sein, doch sie wollte keine Traurigkeit zeigen. Sie müsste so vieles, was sie nicht wollte.
Die Stunden der Nacht zogen sich dahin, zäher als alles andere. Ilèyn wusste nicht, wann der Tag anbrechen würde, wie spät es war oder wann man sie zu der Zeremonie holen würde.
Ilèyn wusste nicht, ob sie das überstehen würde.
Sie fürchtete sich.
Vor der Zeremonie, der großen Halle, den Worten, die dort gesprochen werden würden, den vielen Anwesenden.
Sie wollte dort nicht hin.
Doch sie wusste, dass dies die letzte Möglichkeit war, ihn ein letztes Mal anzusehen. Sein Gesicht zu betrachten und ihm nahe zu sein.
Ilèyn war nicht noch einmal auf die Idee gekommen, die Krankenstation zu verlassen und durch den Erebor zu wandern, sie hatte die ganze Zeit still dagelegen. Mit einer gewissen Erleichterung stellte sie fest, dass der Schlag gegen den Kopf, den sie in der Schlacht kassiert hatte, wohl keinen nennenswerten Schaden angerichtet hatte. Die Kopfschmerzen hatten mittlerweile ziemlich nachgelassen und es war auch schon lange kein Verband mehr nötig, da die Wunde aufgehört hatte zu bluten. Auch um ihren Oberschenkel musste nicht mehr einer der größeren Verbände angelegt werden. Es wurde nur regelmäßig die Mullbinde gewechselt, die um ihr Bein gebunden wurde, um die heilenden Salben länger auf der Haut verweilen zu lassen. Die Wunde hatte aufgehört zu bluten und der Schmerz kam lediglich zurück, wenn sie den Muskel anspannte oder das Bein ruckartig bewegte. Das Laufen fiel ihr zwar schwer, doch es war machbar, wenn auch sehr langsam.
Das einzige, was Ilèyn starke Sorgen bereitete, waren ihre Schulter und ihr Rücken. Oin sagte zwar, dass er zuversichtlich war, was die Heilung betraf, auch weil er ihr bereits die Armschlinge abgenommen hatte. Doch Ilèyn wusste, wie viel Zeit es in Anspruch nehmen würde, bis sie die Schulter wieder gut bewegen könnte. Bis sie wieder kämpfen könnte. Der Gedanke daran frustrierte sie.
Das, was in ihrem Bauch vorging... Daran wollte sie gar nicht erst denken. Sie versuchte sich nicht darauf zu konzentrieren, so lange es ihr möglich war, doch sie spürte, dass sie dankbar dafür war. Eine seltsame Form der Dankbarkeit, eine die sie mit Liebe und mit schmerzlicher Erinnerung gleichzeitig füllte. Sie war sich noch lange nicht vollständig darüber bewusst geworden und versuchte jeden weiteren Gedanken daran zu vermeiden.
Die Versuche, sich mental auf das vorzubereiten, was ihr bevorstand, scheiterten kläglich und so wartete sie, wie eine Verurteilte, die man holen und zum Henker bringen würde.Es klopfte.
Die Tür wurde langsam geöffnet und erneut war es Balin, der zu Ilèyn kam. Bilbo war bei ihm, der Hobbit hatte die Schützin seit sie in das Lazarett gebracht wurde, nicht noch einmal gesehen. Bilbo erkundigte sich schnell nach Ilèyns Befinden, er wirkte äußerst besorgt. Als sie ihm versicherte, dass nur noch ihr Rücken schmerzen würde und sie schon zurecht käme, beruhigte er sich etwas, auch wenn er ihr das nicht ganz glaubte.
Ilèyn wusste, dass der Hobbit vor hatte, nach der Zeremonie zu Ehren Thorin Eichenschilds und seinen Neffen heimzukehren und nicht zu der großen Feier zu bleiben. Sie wusste auch, dass er darüber bisher nur sie selbst und Balin unterrichtet hatte.
Ilèyn verstand, warum er das tat und auch wenn sie es wahrscheinlich vor nicht allzu langer Zeit nicht für möglich gehalten hätte, wusste sie, dass sie ihn vermissen würde. Zudem konnte sie es ihm nicht verdenken, woanders sein zu wollen.
"Brauchst du Hilfe?" fragte Balin, als Ilèyn sich auf der Pritsche aufstützte und versuchte, aufzustehen. Sie schüttelte nur den Kopf und Balin und Bilbo warteten, bis sie es geschafft hatte, sich aufzurichten und hinzustellen. Ilèyn atmete, so gut es ihr möglich war, einmal tief durch und nickte den beiden zu.
Bilbo ging zur Tür, Balin verließ an ihm vorbei den Raum, Ilèyn lief hinter ihm. Mit jedem Schritt, den sie tat, zuckte der Schmerz von ihrem Oberschenkel und ihrem Rücken durch ihren Körper, doch das Letzte, was sie nun gebrauchen konnte, waren Leute, die ihre helfen wollten oder Mitleid. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren und so gut es ging nicht zu humpeln.
Sie sah den ganzen Weg zum Tor Erebors zu Boden, als sie den Eingang in den Berg, welcher mittlerweile so gut wie freigeräumt war, erreichten, waren bereits alle anderen Anwesenden versammelt. Wenige Worte wurden gewechselt, Eisenfuß und seine Armee standen hinter den Zwergen der ehemaligen Gemeinschaft, welche sich ganz vorne aufgereiht hatten. Die Soldaten machten Balin, Bilbo und Ilèyn Platz, welche sich langsam an ihnen vorbeischlängelten, bis sie die anderen weiter vorne erreichten.
Ilèyn spürte die vielen Augen, die auf sie gerichtet waren, sie hörte jedes einzelne Mal, wenn jemand schnell etwas über sie zu seinem Nachbarn tuschelte.
Selten war ihr etwas so unangenehm, wie diese gesamte Situation, doch in dem Moment, als sie mit Balin und Bilbo neben Dwalin, Gloin und den anderen stehen blieb und den Blick gen Thal wandte, wanderten ihre Gedanken wieder viel weiter.
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✓ | Vergissmeinnicht ~ Fili FanFiction / Hobbit FanFiction / Fili FF
FanfictieAbgeschlossen ✓ "Auch du wirst irgendwann heimkehren." Zögernd öffnete sie eine der schweren Holztruhen. Der Deckel knarzte laut, als er nach hinten klappte. Ein staubiger Umhang. Münzen. Briefe. Rostige Nägel. Zumindest ein paar brauchbare Dinge. ...