Sieh, die Sonne sinkt! Eh sie sinkt, eh mich Greisen ergreift im Moore Nebelduft, entzahnte Kiefer schnattern und das schlotternde Gebein, Trunken vom letzten Strahl reiß mich, ein Feuermeer mir im schäumenden Aug, mich geblendeten Taumelnden in der Hölle nächtliches Tor.
Johann Wolfgang von Goethe
»Nein!«, schrie Javet, war zu geschockt, um etwas zu tun. Nur im letzten Augenblick schaffte er es, sich zur Seite zu werfen. Annies Schlag ging knapp an ihm vorbei. Die Klinge des Dolches schrammte über den Stein, ein grässliches Kratzen, das ihm einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Blitzschnell war Javet auf den Beinen. »Annie! Nein! Was machst du!«
Doch das Mädchen hörte nicht auf ihn, drehte sich ruckartig um. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie erkannte ihn nicht, hob erneut den Dolch und ging auf ihn los. Javet wich aus, versuchte, sie am Handgelenk zu ergreifen. Vielleicht konnte er sie dazu bringen, die Waffe fallen zu lassen, aber ihre Bewegungen waren zu unvorhersehbar. Ein kurzer Schmerz schoss ihm durch den Unterarm, als sie ihn dort erwischte.
»Annie!« Er spürte Verzweiflung in sich aufsteigen. Das ist nicht sie! Sie würde sowas nie tun! »Hör auf!«
Im selben Moment war Domador an seiner Seite. Der Mann hatte den Säbel von Kinzhal in der Hand und hielt ihn Annie entgegen. Als würde sie die Klinge nicht sehen, stolperte sie vor. Das Mädchen gab keinen Laut von sich, als die Waffe sich in ihre Brust bohrte. Ein roter Fleck breitete sich auf ihrem Kleid aus. Schwach fuchtelte sie mit dem Dolch in der Luft herum, tat noch einen Schritt vorwärts. Rotes Blut quoll zwischen ihren Lippen hervor.
»Nein!«, kreischte Javet entsetzt. Er packte Domador am Unterarm und zerrte ihn mit aller Kraft zurück. »Du tust ihr weh!« Der Säbel löste sich von Annie und das Mädchen fiel kraftlos zu Boden. Sofort stürzte er zu ihr, richtete ihren Oberkörper auf und hielt sie in seinen Armen. Verzweifelt blickte er auf den roten Fleck an ihrer Brust. Entschlossen zog er sein Oberteil aus und presste es auf die Wunde. Hinter sich hörte er irgendwo ein grausames Lachen. Wütend fuhr er herum.
»Was hast du zu ihr gesagt?«, schrie er Kinzhal an. »Warum? Sie ist nicht deine Sklavin!«
Doch der Triglaza lachte nur. »Sie ist sehr wohl meine Sklavin!«, rief er auf Nordländisch. »Ist es immer gewesen! Ich habe ihr nur befohlen, so zu tun, als wäre sie es nicht mehr, damit sie euch zur Flucht verhilft!« Er grinste Sera und Estrella an. »Ihr werdet mich nach Hölle bringen, oder? Ich weiß, ihr versteht mich nicht, aber eure Handgesten sind einfach zu leicht zu deuten.« Er wedelte mit den Händen herum und wiederholte die Bewegungen, die Domador kurz zuvor noch gemacht hatte. Dann ließ er sie wieder sinken. »Zu vorhersehbar! Ihr habt keine andere Möglichkeit als in eure Heimat zurückzukehren! Und meine Leute werden euch folgen!«
Estrella hielt dem Triglaza den Säbel unter das Kinn, woraufhin sein Lachen abrupt endete.
»Sera!« Javet blickte zu der Frau in der Hoffnung, sie würde etwas machen – ihm helfen –, aber sie stand nur da, den Kopf gesenkt und vermied es, in seine Richtung zu schauen. »Domador!« Seine Stimme zitterte vor Wut und Fassungslosigkeit, als er zu dem Mann sah. »Warum hast du sie verletzt? Ich wollte ihr gerade den Dolch abnehmen!«
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Pazifik - Verbannt
FantasyAchtung! Dies ist der zweite Band der Pazifik-Trilogie! Ihr solltet vorher »Pazifik - Verfolgt« gelesen haben. Nur mit viel Glück und der Hilfe der Magierin Marielle ist Javet vor siebzehn Jahren mit dem Leben davongekommen, als König Miro seinen ei...