Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.
Franz Kafka
Javet wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nicht wegen der Hitze, auch wenn diese ebenfalls extrem war, sondern wegen der Nervosität, die ihn ergriffen hatte. Wenn Qing Xin und Domador ihn nicht dazu gezwungen hätten, hätte er sich wahrscheinlich nicht mal zum Schlafen hingelegt. Jetzt war er wenigstens mehr oder weniger wach und bei Kräften.
Auf ihrer Reise zum Urberg hatte Qing Xin ihm ganz genau erklärt, was Rhetorik war. Die Kunst des Sprechens und Überzeugens nur mit Hilfe von Worten. Der Westländer hatte ihm mit den Informationen über Javets Familie einige wichtige Argumente vorbereitet und vorformuliert, die er wiedergeben sollte, wenn es so weit war. Woher Qing Xin als Heiler so viel über Rhetorik wusste, war Javet schleierhaft, doch solange alles klappte, war das vollkommen unwichtig. Ich muss mich nur an alles erinnern und wenn nötig improvisieren. Ich darf nichts vergessen.
Jeden Tag hatte Qing Xin ihm neue Sachen zur Rhetorik beigebracht, während sie über die wüste Einöde des Pazifiks getrabt waren. Betonung, Körperhaltung, künstliche Pausen, alles Kleinigkeiten, die aber unglaublich wichtig waren. Ab und zu hatten sie auch Diskussionen zu bestimmten Themen geführt, um das Improvisieren zu üben. Am Abend, wenn sie rasteten, war dann Domador mit seinen Lektionen an der Reihe gewesen. Er hatte darauf bestanden, Javet die Kunst des Schwertkampfes beizubringen, falls es zum Schlimmsten kommen sollte. Da Qing Xin sich geweigert hatte, dem Krieger sein eigenes Schwert zu überlassen, hatten sie kurz in einem Dorf anhalten müssen, um sowohl für Domador als auch für Javet eines zu besorgen. Nun hing die scharfe Klinge am Gürtel des Jungen. Er hatte dem Schwert den Namen ›Annie‹ gegeben. Der Name war in der Nähe des Griffs ins Metall eingeritzt. Zusätzlich hatte Qing Xin Javet seine schwarzen Lederhandschuhe überlassen. »Adlige haben das Zeichen eines Wasaliti nicht«, hatte der Westländer erklärt. »So kannst du es verbergen.« Woher er überhaupt wusste, was dieses Zeichen bedeutete, blieb ein Rätsel.
»Bereit?«, fragte Domador, der an Javets Seite trat. Die Augen hatte er auf den Urberg gerichtet, der vor ihnen aufragte. Eine steile Felswand, in die die ersten Könige des Pazifiks die groben Treppenstufen zur Plattform oben geschlagen hatten, wo ihre Nachfahren sich ein Mal im Jahr versammelten.
»Nein«, gab Javet zu.
»Das ist gut«, entgegnete Qing Xin an Domadors Stelle.
»Das ist nicht gut!«, fuhr Domador ihn an. »Ich dachte, er kennt die Regeln dieser verdammten Rhetorik jetzt in- und auswendig!«
»Ja«, antwortete Qing Xin ruhig. »Aber vor so ernsten Sachen ist es richtig, sich nicht bereit zu fühlen. Es kann immer etwas passieren, was du nicht vorhergesehen hast. Wenn du dir nicht sicher bist, kannst du richtig darauf reagieren. Andernfalls wärst du vollkommen aufgeschmissen und könntest in Panik geraten.«
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Pazifik - Verbannt
FantasyAchtung! Dies ist der zweite Band der Pazifik-Trilogie! Ihr solltet vorher »Pazifik - Verfolgt« gelesen haben. Nur mit viel Glück und der Hilfe der Magierin Marielle ist Javet vor siebzehn Jahren mit dem Leben davongekommen, als König Miro seinen ei...