Ein Mensch, der sich schuldig fühlt, wird zu seinem eigenen Henker.
Lucius Annaeus Seneca
In einem schnellen Trab schlugen sie eine Richtung ein, die noch weiter nach Süden führte. Ab und zu warf Javet einen Blick auf die gezeichnete Karte, um sicher zu sein, dass sie nicht nach Osten oder Westen abwichen. Dabei orientierte er sich sowohl an der Landschaft um ihn herum – achtete immer darauf, den Urberg im Blick zu haben – als auch an der Sonne. Manchmal brachte er es aber auch nicht über sich, zu der hellen Feuerkugel hoch zu schauen. Sie erinnerte ihn an Annie und an die rote Sonne, die er ihr auf den Grabhügel gemalt hatte. Ich werde dich nie vergessen.
Eines Abends – sie hatten ein verlassenes Wrack gefunden, in einem dessen Räume sie für die Nacht unterkommen wollten – setzte Domador sich mit einem besorgten Gesichtsausdruck neben ihn und sah ihm direkt in die Augen.
»Irgendwas geht in dir vor, was nicht gut für dich ist«, hob er mit ernster Stimme an. »Denk nicht, ich merke nicht, dass du nachts nichts schlafen kannst. Du hast andauernd Albträume, oder?«
Javet wich seinem Blick aus.
»Ist es wegen Annie?« Der Mann seufzte. »Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet hat, aber sie ist nun nicht mehr da. Du musst sie loslassen. Die Zeit mit ihr war schön, liegt jetzt jedoch in der Vergangenheit. Behalte sie in Erinnerung, aber vergiss nicht, dass du im Hier und Jetzt lebst. Das Leben geht weiter.«
»Ich träume jede Nacht von ihr.« Javet schlug sich die Hände vors Gesicht und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. »Sie gibt mir die Schuld an ihrem Tod. Sie steht vor mir und schaut mich an. Ihr Kleid brennt und dann fängt sie an zu schreien und verbrennt ebenfalls. Oder sie hält den Dolch in der Hand und rammt ihn sich dann in die Brust. Immer und immer wieder, bis ihr Körper ein rotes Schlachtfeld ist. Und ich kann nichts dagegen tun.« Jetzt entkam doch noch ein Schluchzen seiner Kehle.
»Du bist nicht Schuld an ihrem Tod.« Domador wollte ihm beruhigend auf die Schultern klopfen, doch Javet wich ihm aus und stand auf. Wütend starrte er ihn an.
»Wenn ich sie nicht mitgenommen hätte, wäre das alles nicht passiert«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich weiß, dass sie mich bis zu meinem Lebensende in meinen Träumen verfolgen wird! Sie wird mich nicht in Ruhe lassen!«
»Du redest von ihr als wäre sie noch am Leben.« Ein düsterer Unterton schlich sich in Domadors Stimme, während er ebenfalls aufstand. »Aber sie ist tot, Javet. Annie ist tot. Sie kann dich nicht verfolgen. Du bist es selber, der sich das einbildet.«
»Ich bilde mir nichts ein!«, blaffte Javet und atmete dann tief durch. »Bleib du hier. Ich übernehme die erste Wache.«
Er hörte nicht auf Domadors Ruf, sondern verließ das Wrack, das sich wie der Leichnam eines toten Metallmonsters über ihm in die Höhe erhob. Bei Sult und Hong Tuzi angekommen, blieb er stehen und starrte in die Ferne. Die Sonne war schon untergegangen und die letzten Strahlen wichen der Dunkelheit der Nacht. Über ihm schimmerte bereits das breite Sternenband. Und der Mond. Marielle hatte ihm erzählt, dass der Mond nicht von sich aus leuchtete. Er reflektierte nur das Licht der Sonne, wie ein Spiegel.
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Pazifik - Verbannt
FantasyAchtung! Dies ist der zweite Band der Pazifik-Trilogie! Ihr solltet vorher »Pazifik - Verfolgt« gelesen haben. Nur mit viel Glück und der Hilfe der Magierin Marielle ist Javet vor siebzehn Jahren mit dem Leben davongekommen, als König Miro seinen ei...