Möge der Ozean immer so ruhig sein wie heute. Dies hoffend taufe ich ihn Pazifischer (friedlicher) Ozean.
Ferdinand Magellan
Am siebten Tag wurde Javet von einem lauten, herzzerreißenden Schrei geweckt. Er sprang auf die Füße, Hand sofort am Schwert und bereit, sich zu verteidigen. Doch er sah keine Angreifer. Nur vier Reiter auf drei Höllenrössern – ein Tier trug zwei Personen –, die am Rand des Lagers angehalten und abgestiegen waren. An dem Rücken des vordersten Mannes, den Javet als Aguarde erkannte, schien etwas befestigt zu sein, das er auf diese Entfernung nicht einordnen konnte. Hinter ihm tauchte nun die Gestalt auf, die mit ihm auf dem Höllenross geritten war. Eine Frau.
»Estrella!«, rief Javet. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Ohne nachzudenken stürmte er auf sie zu und umarmte sie, erschrak, weil sie irgendwie verändert aussah. Statt Freude stand eine tiefe Trauer in ihren Augen. Verwirrt folgte er ihrem Blick und sah Domador, der vor Aguarde zu Boden gesunken war, das Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse verzogen. Die letzten Tage hatte sein Fieber nachgelassen und die Wunden hatten mehr oder weniger aufgehört zu bluten, aber er war immer noch schwach. Nun sah er jedoch schlimmer aus als je zuvor.
Allmählich beschlich ihn eine schreckliche Ahnung. Javet schaute von Domador zu dem Aguarde. Der Gegenstand, der an seinem Rücken befestigt war, war ein Metallarm. Der Metallarm, der zuvor Hierro gehört hatte. Er ist also gestorben. Und... alle anderen auch?
»Wo ist Sera? Wo sind die anderen?«
Voller Sorge blickte er zu Estrella, die seinem Blick auswich. Sie schüttelte stumm den Kopf, wobei ihre gewellten Haare leicht hin und her schwangen. Domador stieß einen weiteren Schrei aus, schlug mit der Faust auf den Boden und stand dann auf. Er zischte Aguarde etwas zu, der den Metallarm von seinem Rücken löste und ihn ihm reichte. Mit einem Ruck riss Domador ihn dem Mann aus den Händen, drehte sich abrupt um und stampfte davon. Kurz darauf sah Javet ihn mit einer kleinen Gruppe von Männern und Frauen in Richtung eines abgelegenen Berges verschwinden. Qing Xin war auch unter ihnen. Bei dem Gedanken an das, was Domador wahrscheinlich vorhatte, wurde Javet schlecht.
»Wo gehen sie hin?«, fragte Rafaga. Das Mädchen war ihm die ganze Zeit nicht von der Seite gewichen, umsorgte ihn als wären sie schon lange befreundet.
»Domador bekommt seinen Schwertarm wieder«, antwortete er gepresst. »Hierro ist gestorben. Und alle anderen auch...«
Estrella tippte ihn an der Schulter an. »Erinnern«, sagte sie in gebrochenem Ostländisch und legte eine Hand aufs Herz. Die Stummel ihrer Finger wirkten irgendwie fehl am Platz. »Immer.«
»Ich werde Sera nie vergessen«, antwortete Javet, während sich Tränen in seinen Augen sammelten. In denen von Estrella ebenfalls. Und zu seiner Überraschung schloss die Kriegerin ihn in die Arme und strich ihm sanft über die wilden Haare, während sie schluchzte.
Die Schreie, die die Menschen aus Hölle in den nächsten Stunden aus der Richtung des Berges hörten, hinter dem Domador verschwunden war, ließ allen das Blut in den Adern gefrieren. Javet versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, konnte sie jedoch nicht ausblenden. Sie bohrten sich tief in seinen Kopf, schmerzten wie der Schnitt eines Messers. Estrella und Aguarde blieben stets bei ihm, Rafaga ebenfalls. Immer wieder sahen die Krieger in die besagte Richtung, doch erst am Abend kehrte Domador zurück. Sein Gesicht blass, der obere Teil seines rechten Arms blutbefleckt, der untere aus glänzendem Metall. Er blieb auf dem Weg zu seinem Schlafplatz vor Javet stehen.
»Wie viel ich dir auch zu verdanken habe, zu viele sind wegen dir gestorben«, zischte er. »Aber meine Krieger und ich werden dir helfen, den Thron zu erobern. Sonst war alles umsonst.«
Javet konnte nichts anderes tun als zu nicken. Die Wut, die in Domadors Augen brannte, ließ ihn erschauern.
Am nächsten Tag betraten die Menschen aus Hölle endlich den Pazifik. Viele brachen in Tränen aus und ließen sich zu Boden fallen oder knieten vor Qing Xin nieder, um ihm zu danken.
Kurz bevor er schlafen ging, kam Domador erneut zu ihm. »Ich habe meinen Kriegern Bescheid gesagt, dass wir morgen nach Ngome aufbrechen. Sie sind bereit, für dich zu kämpfen, damit du König wirst und sie hier bleiben können.«
»Du kommst mit?«, fragte Javet besorgt. »Aber du bist immer noch verletzt! Und dein Arm...«
»Ich bin stark genug«, unterbrach Domador ihn. »Ich hätte mit meinem Vater reiten sollen, um Sera und Estrella zu helfen. Ich werde nicht nochmal tatenlos dasitzen, während andere für mich kämpfen.« Damit drehte er sich um und schritt davon.
»Du wirst doch zurückkommen, um mich zu holen?«, fragte Rafaga aus den Schatten heraus. »Versprichst du es mir?«
»Ich werde es versuchen«, antwortete Javet und legte sich hin, den Rücken zu ihr gedreht. Ich werde nichts mehr versprechen. Ich habe Annie versprochen, sie zu retten, und habe es nicht geschafft. Wieder zog er sein Schwert ein Stück aus der Scheide und strich über ihren eingeritzten Namen. Ihr lächelndes Gesicht tauchte wie aus dem Nichts vor ihm auf. Ihre Lippen bewegten sich leicht, aber er verstand nicht, was sie sagte. Noch nicht, dachte er. Noch nicht.
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Teil eines erweiterten Kapitels, deswegen etwas kürzer.
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Pazifik - Verbannt
FantasyAchtung! Dies ist der zweite Band der Pazifik-Trilogie! Ihr solltet vorher »Pazifik - Verfolgt« gelesen haben. Nur mit viel Glück und der Hilfe der Magierin Marielle ist Javet vor siebzehn Jahren mit dem Leben davongekommen, als König Miro seinen ei...