Chapter 6 - Harry

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Es ist noch früh am Morgen, als mein Taxi neben dem New York Presbyterian Hospital hält. Die Straßen wurden mittlerweile vom Schnee geräumt, sodass die ersten Autos wieder durch die Straßen fahren. Die Luft ist kühl und beginnt nach Abgasen zu stinken.

Ich muss ein kurzes Stück bis zum Haupteingang laufen.
Und gerade, als ich schnellen Schrittes um die Ecke biege, vernehme ich Stimmen. Laute Stimmen. Zunächst existieren sie nur in meinem Unterbewusstsein, doch als plötzlich grelle Lichter meine Augen blenden, komme ich abrupt zum stehen. Eine Schar von Paparazzi und Fans umkreisen mich und schießen reihenweise Bilder.
Ich schiebe mir meine Sonnenbrille tiefer ins Gesicht, ich hatte gedacht, dass würde ausreichen, meine Identität zu verstecken.
Dabei möchte ich das gar nicht, mich verstecken müssen.
Die ganze Situation ist anscheinend außer Kontrolle geraten. Mir werden von allen Seiten Fragen und Behauptungen an den Kopf geworfen. Ich schlucke.
Am liebsten würde ich von diesem Ort verschwinden, doch liegt die Eingangstür, über welche ich nur zu Louis gelangen kann, zwischen mir und den Schaulustigen New Yorkern.
Ich stecke in einer verdammten Zwickmühle.
Ich hole einmal tief Luft, ignoriere ihre brüllenden Fragen und quetsche mich durch die Ansammlung von Leuten. Als mich Mädchen im Teenageralter bitten ein Selfie mit ihnen zu machen, gebe ich mich geschlagen und halte vereinzelt an. Ich benötige ganze 15 Minuten um die zehn Meter zur Tür zu kommen...

Als ich es endlich geschafft habe und die automatische Schiebetür hinter mir schließt, merke ich wie still es hier drinnen ist. Eine Krankenschwester in weißer Arbeitskleidung rast auf mich zu, die Wangen gerötet von ihrem zwischen Sprint.
,,Es tut mir schrecklich leid Mr. Styles, dass sie den Haupteingang benutzen mussten, aber der Nebeneingang wird gerade renoviert. Ich bitte um Entschuldigung, für diese Unannehmlichkeiten.",peinlich berührt blickt sie zu Boden.
,,Nein, dass macht mir nichts aus. Dafür können Sie ja nichts.", ich nehme meine Sonnenbrille aus dem Gesicht und schiebe sie in meine Jackentasche. ,,Aber wäre es vielleicht möglich mich und Lou- ähh, Mr. Tomlinson durch einen anderen Ausgang nach draußen zu entlassen? Für ihn wäre das sicherlich besser, gerade wo er noch nicht ganz gesund ist."
,,Aber selbstverständlich, darum werde ich mich kümmern.", sagt sie sofort und schiebt sich an mir vorbei, zum Empfang.

Währenddessen bewege ich mich in die entgegengesetzte Richtung und suche erneut das Zimmer mit der Nr. 28 auf.
Dort angekommen klopfe ich zwei mal gegen die Tür, dann wird sie mir überraschend von Dr. Franklin geöffnet.
,,Guten Morgen.", begrüßt er mich und wirft mir dabei ein herzerwärmendes lächeln zu.
,,Ich habe Mr. Tomlinson bereits erklärt, dass wir ihn gleich entlassen können. Seine Werte sehen gut aus, die nötigen Medikamente gebe ich ihm mit." , er lässt mich eintreten und ich nicke ebenso freundlich zurück.
Währenddessen fällt mein Blick auf Louis, welcher mir erstaunlicherweise zu lächelt. Mein Herzschlag intensiviert sich. Ich sollte nicht so über ihn denken, im Gegenteil, ich sollte mich schämen. Schämen, weil es sich so verdammt gut anfühlt zu wissen, dass er neben mir steht. Dass wir keine Hunderte von Kilometern getrennt voneinander sind.

„Fühlst du dich denn gut genug wieder raus zu gehen?", frage ich ihn zur Sicherheit. Sein Kopf beginnt energisch auf und ab zu wippen, dass bedeutet ein eindeutiges ja. Was hatte ich auch anderes erwartet. Louis hasste Krankenhäuser wie die Pest.
,,Okay.", ich hebe seine Schuhe vom Boden auf, sie liegen immer noch da, wo ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Dann reiche ich sie ihm und Louis nimmt sie dankbar entgegen. Keine Streitereien – diesmal jedenfalls.

Im nächsten Schritt sucht Lou seine übrigen Sachen zusammen, dass bedeutet seine Jacke und die Zigarettenpackung, welche er sich unauffällig einsteckt. Dann drückt ihm der Arzt seine Tabletten in die Hände und verabschiedet uns mit einem letzten Lächeln.

***

Ich bin heilfroh, als wir durch die Tiefgarage des Krankenhauses ins Freie gelangen, weit entfernt von den wartenden Paparazzi und kreischenden Teenagern. Ich begleite Louis bis zur Straße, überlege ihn einfach in ein Taxi zu setzten, doch habe ich dabei ein schlechtes Gewissen.
,,Willst du nicht vielleicht den Tag über bei mir im Apartment bleiben?", frage ich vorsichtig. Stirnrunzelnd blickt er mir entgegen und ich bereue meine Frage, kaum, dass ich sie ausgesprochen habe.
,,Du musst auch nicht.", setzte ich schnell hinterher.
,,Nein, nein.", er unterbricht mich, ehe ich mich weiter reinreiten kann. ,,Klar, wieso nicht.", er verschränkt die Arme vor seiner muskulösen Brust - jedenfalls nehme ich das an, schließlich trägt er eine übergroße Winterjacke über den Schultern. Eigentlich schade, wenn ich so darüber nachdenke.
„Wirklich?", erstaunt sehe ich ihn an, – etwas zu lange – bis ich realisiere, dass er es ernst meint.
,,Okay, ja. Ich rufe uns schnell ein Taxi.", meine Stimme zittert vor Nervosität, ich frage mich warum.
,,Lass uns lieber laufen." Louis geht an mir vorbei, in Richtung der Straße. ,,Darfst du das denn schon?", rufe ich ihm besorgt nach. ,,Was juckt die das!", kommt es zurück.
Also folge ich ihm.

***

Es ist ungewohnt so nahe neben ihm zu gehen, während unsere Hände nur Zentimeter aneinander vorbei schwingen. Ich kann mich kaum auf den Weg konzentrieren und rutsche immer wieder mit dem Fuß auf dem eisigen Boden weg. Dieses verdammte Wetter!
Der Weg ist lang und in der Ferne erkenne ich bereits die vernebelten Schatten der Brooklyn Bridge. Es sind kaum Touristen unterwegs, überhaupt ist es wie ausgestorben auf den Straßen. Der Weg ist zwar größtenteils geräumt, jedoch immer noch unwahrscheinlich glatt.
Beim nächsten Schritt den ich mache, verkalkuliere ich mich beim Ausweichen eines Schneeberges und komme ins straucheln. Reflexartig suche ich nach einer Möglichkeit um mich irgendwo festzuhalten und greife neben mich. Mit einem Ruck ziehe ich an Louis Arm, lande in seinen Armen, statt auf dem Asphalt.
,,Wow!", ruft er aus, hält mich fest umklammert, bis ich mich von ihm wegdrücke. Mein Gesicht wird schlagartig heiß, denn ist es mir unangenehm, derart hilflos in seinen Armen gelegen zu haben. ,,Tschuldigung.", nuschle ich.
Dabei haben wir das früher stundenlang getan - einfach einander im Arm gehalten.
Aber diese Zeiten sind vorbei, weil ich es damals versaut habe.

***

Nach einer Weile des Nebeneinanderhergehends, erreichen wir die großen Anfänge der Brocklyn Bridge. Das ist zwar überhaupt nicht mehr die Richtung zu meiner Wohnung, aber ich denke nicht mal im Traum daran, einen anderen Weg einzuschlagen.
Das Holz ist eingeschneit und von Eiszapfen eingerahmt. Ein wirklich malerischer Anblick.
,,Lass uns doch einen kurzen Abstecher machen.", schlage ich ihm vor. Louis lächelt und nickt, geht voraus und zieht mich an der Hand hinterher. Seine Finger sind warm, aufgeheizt von seinem Jackenfutter. Sie fühlen sich weich und gut in meinen an, also Folge ich ihm. Ich frage mich, wie er mich überhaupt noch ansehen kann, warum er mich nicht statt meine Hand zu halten, anbrüllt und seine Faust in meinem Gesicht schlägt. Denn hätte ich es verdient.
Aber traue ich mich nicht nach dem Grund zu fragen, sondern genieße es einfach. Schuld müssen die Schmerzmittel sein, da bin ich mir fast sicher.

Zum ersten mal fühle ich mich an einem solch populären Ort nicht beobachtet oder unwohl. Wir sind beinahe die einzigen hier, abgesehen von ein paar Hundebesitzern, welche ihre Morgenrunde drehen. Gut so, denke ich.

Eine friedliche stille umgibt uns, während wir weiter die Brücke hinaufgehen. Nach einer Weile befindet sich unter unseren Füßen nicht länger eine befahrene Straße, sondern das rauschende Wasser des East Rivers.

Lou hält meine Hand noch immer in seiner, als wir zum Stehen kommen. Ich lege die freie Hand auf das kalte Geländer und schiele nach unten in die Tiefe.
Das Wasser sieht eisig und ungemütlich aus und ich frage mich unweigerlich, wie viele dort unten ihren Tod gefunden haben? Wie Angehörige mit einer solchen Tragödie umgegangen sind?
Für mich wäre so etwas unvorstellbar.
Ich will mir gar nicht vorstellen, was ich gemacht hätte, wenn Louis den Unfall nicht überlebt hätte.
Ein Schauer läuft meinen Rücken hinunter, ich schüttele mich.

In diesem Moment sieht Lou mich an, lässt meine Hand los. Verdammt, wieso fühlt sich das so falsch an. Er fragt mich was los ist, vermutlich denkt er, ich möchte ihn los werden. Doch ist das Gegenteil der Fall.
,,Nichts.", sage ich, weil ich zu feige bin die Wahrheit auszusprechen. Ich würde ihn nämlich schrecklich vermissen, denn kann ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Das konnte ich schon vom allerersten Tag an nicht, wo wir uns das erste mal begegnet sind.
Er ist ein Teil meiner Familie geworden, das kann ich nicht länger verleugnen.

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