Der physische Schmerz war so stark, dass er jede emotionale Regung in ihrem Körper betäubte. Ihr getupftes Fell war schmutzig, zerzaust und blutbefleckt. Tupfenherz konnte das Geschehene noch immer nicht realisieren, während sie langsam vorwärts humpelte. Es war alles so schnell gegangen… Verständnislos schüttelte sie den Kopf, um die schrecklichen Bilder vor ihrem inneren Auge loszuwerden.
Ich muss die Blutung stoppen und die Wunde reinigen, sonst verliere ich am Ende noch mein Auge!, wenn sie etwas tun konnte, egal was es war, musste sie sich nicht mit ihrer derzeitigen Situation auseinander setzen – noch nicht.
Ich brauche Ampfer!, dachte sie unwirsch und sofort erschien das gelbe Band vor ihren Augen. Mit unsicheren Schritten folgte sie diesem und pflückte mit weniger Sorgfalt als es normalerweise der Fall wäre die einzelnen Stängel der Heilpflanze. Der Saft der Pflanze brannte wie Säure in der frischen Wunde, doch nur so konnte sie diese säubern, um Infektionen zu vermeiden. Ein weiteres Büschel nahm sie sorgsam zwischen die Zähne und dachte nun so fest sie konnte an Ginster. Wieder erschien das gelbe Band vor ihr und wieder folgte sie diesem zittrig, denn ihre Kräfte schwanden zusehends. Vor dem Busch ließ sie den Ampfer auf den Boden fallen und zerkaute etwas Ginster, um ihn als Breipackung auf ihrer linken Gesichtshälfte zu verteilen. Auch bei dieser Prozedur schmerzte die Verletzung so schlimm, dass die Verstoßene Sorge hatte, sie könnte das Bewusstsein verlieren. Nachdem sie sicher war, dass sie es durchstehen konnte, sammelte sie genügend Spinnweben aus den umliegenden Büschen, um mittels eines festen Verbandes die Breipackung an Ort und Stelle zu halten.
In Ordnung, mehr kann ich erstmal nicht tun. Was… was mach ich jetzt?, das Zittern ihres Körpers wurde stärker und Tränen sammelten sich in ihrem gesunden Auge.
Ich… ich bin ganz allein…, wieder schüttelte sie leicht den Kopf und blinzelt entschlossen mit fest aufeinander gepressten Kiefern. Ich bin eine Heilerkatze, im Moment eben ohne Clan, aber ein Heiler bleibt ein Heiler.
Erneut richtete die Kätzin auf, sammelte Blätter und Gräser, aus denen sie sorgsam eine Kräutertasche knüpfte, wie Schlammnase sie besessen hatte.
Schon besser., sie atmete einmal tief durch und wusste, dass ihre Kräfte sie verlassen würden, wenn sie sich jetzt ausruhte. Jetzt werde ich die wichtigsten Kräuter sammeln, die ein Heiler bei sich haben sollte und dann suche ich mir einen Unterschlupf.
Solange sie etwas zu tun hatte, musste sie die Angst und die Einsamkeit nicht zu nah an sich heran lassen – musste sie den Schmerz nicht zu nah an sich heran lassen.
Immer wieder dachte sie an die wichtigsten Kräuter die sie kannte, folgte den gelben Bändern und füllte Stück für Stück ihre neue Kräutertasche auf.
Ampfer, Ginster, Rosmarin, Mohnsamen…
Nachdem die Tasche voll war, rollte sie sich in einem ausgehöhlten Baum zusammen. Ihre Arbeit war getan und ihre Kräfte vollends aufgezehrt. Nun konnte sie dem Schmerz nicht länger entkommen. Tränen stiegen in ein weiteres Mal in ihre Augen und eine lange Zeit war es Tupfenherz nicht möglich mit dem Weinen auch nur ansatzweise aufzuhören.
Wie konnten sie das glauben? Wie konnten sie das zulassen? Wie konnten sie mir das nur antun?, ihre Gedanken kreisten unablässig um dieselben Fragen und ihr Innerstes krampfte sich unangenehm zusammen.
„Und Falkenfeder? Sie ist… alles für mich gewesen…“, der Schmerz hinter ihrem Verband pochte noch stärker bei dem Gedanken an ihre Schwester.
Dann fiel ihr die Prophezeiung von Silberstern wieder ein und ein bitteres Lachen entrang sich ihrer Kehle.
Wenn der Falke den Mond umkreist, wird Blut wird zu Wasser werden.
Und endlich verstand sie die Bedeutung dieser rätselhaften Worte.
Zu spät… viel zu spät…
Ja, der Falke war Falkenfeder gewesen und der Mond hatte für Mondsichel gestanden, doch das Blut hatte keinen Kampf symbolisiert. Es hatte für die Verbindung zwischen der braunen Kriegerin und ihr gestanden und dafür, dass es ihre eigene Schwester sein würde, die ihr das Mahnmal geben würde.
Unser Blutband ist zu Wasser und unsere Familie damit zur Nichtigkeit verdammt worden…
„Ich bin so mäusehirnig gewesen… Es tut mir Leid, Silberstern… du hättest auf jemand Anderen setzen sollen, denn ich habe es vermasselt…“, flüsterte sie traurig und rollte ihren entkräfteten Körper ein wenig enger zusammen.Tupfenherz erwachte auf einer nebligen Lichtung, wusste sofort wo sie sich hier befand und stemmte sich leise ächzend auf ihre Pfoten.
„Hallo?“, ihre Stimme verhallte leise in den Untiefen der immerwährenden Wettererscheinung.
Neben ihr schälte sich eine silbergraue Gestalt aus dem Nebel, die sich ihr mit langen Schritten näherte.
„Sei mir gegrüßt, junge Heilerin.“, die Stimme der Kätzin klang anmutig und freundlich, aber auch traurig.
Sie weiß was geschehen ist. Wie auch nicht, der SternenClan weiß schließlich alles…
„Du musstest viel durchleiden.“, Silberstern stand nun direkt vor ihr und nur eine Katzenlänge trennte sie. „Ich kann… deine Schmerzen ein wenig lindern.“
Die Verstoßene zog fragend eine Braue hoch. Hier in dieser Parallelwelt waren ihre Kratzer bereits zu hässlichen Narben verheilt und zumindest körperlich empfand sie keinerlei Schmerz.
„Wie denn? Ich… ich habe alles verloren…“
Ihre Ahnin seufzte leise auf, tappte zu ihr und ließ sich neben der Getupften nieder.
„Wem erzähle ich hier eigentlich was…?“, freundlich kuschelte sie sich an die junge Heilerin und legte den dünnen Schweif um ihre Flanke.
„Tupfenherz, nicht wahr? Es ist ein sehr schöner Name.“, Silberstern lächelte sie an und ein kleines Lächeln erschien auch auf ihrem Gesicht. „Ich weiß, dass es nicht leicht ist weiterzukämpfen. Vor vielen Blattwechseln stand ich auch vor einer schweren Zukunft. Doch im Gegensatz zu dir hatte ich Freunde, die mich unterstützt haben.“, ihre ozeanblauen Augen leuchteten verträumt, dann blickte sie die ehemalige Heilerin fest an. „Du wirst Freunde finden. Ich verspreche es dir. Nutze deine Gabe, um den richtigen Weg zu finden, dann wird alles gut werden.“
Erneut stiegen heiße Tränen in die bernsteinfarbenen Augen der jungen Kätzin.
„Ich weiß gar nicht, ob jemals wieder alles gut werden kann…“, murmelte sie leise. Doch da begann die SternenClan Katze sanft ihren bunten Pelz zu putzen und ihre Tränen versiegten so schnell, wie sie gekommen waren.
„Nach jedem tiefen Tal, egal wie tief es auch sein mag, kommt wieder ein Berg. Jeder muss seinen Weg gehen, wie schwer das auch sein mag. Du hast deine Aufgabe noch vor dir und irgendwann wirst du es verstehen.“Wenn die Sonne den Mond ablöst, wird der Falke auf die Reise gehen und die Herzen der Katzen vom Eis befreien. Doch vorher wird der Schwarze Tod den Wald heimsuchen und nur ein reines Herz kann ihn vertreiben.
Mit einem sanften Blick beobachtete die ehemalige Anführerin ihre junge Ahnin und trat langsam rückwärts in den Nebel, der sie Stück für Stück zu verschlucken begann.
„Ich verspreche dir, alles wird gut.“, der Ruf verhallte im dichten Wetterphänomen. Tupfenherz nickte langsam, schloss ihre Augen und öffnete sie wieder.
Und… tatsächlich ihr Herz fühlte sich ein wenig leichter an.
„Morgen werde ich dem gelben Faden folgen.“, miaute sie bestimmt in die Stille hinein, schloss erneut die Augen und fiel in einen traumlosen Schlaf. Morgen wird es wieder besser werden. Ganz bestimmt.Bild von @_nightspirit_ (Instagram)

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The Betrayal
Bí ẩn / Giật gânThe Betrayal handelt viele, viele Blattwechsel nach The Brightest Star. Tupfenjunges und ihre Schwester Falkenjunges sind direkte Nachkommen der legendären Silberstern und auch ihnen steht Großes bevor, wenn auch für jede anders als gedacht. Währen...