12. Kapitel

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Müde und ein Gähnen unterdrückend saß Tupfenpfote neben dem Frischbeutehaufen und fraß eine kleine Maus, um ihren Hunger zu stillen. Herzjunges war nun drei Tage alt und hielt sich standhaft, doch das winzige Junge würde noch mehr Kraft brauchen, damit es auf denselben Stand kommen konnte, den andere Junge hatten wenn sie frischgeboren waren.
Wenn sie kräftig genug ist, kann ich mir Schlaf erlauben… Aber bis dahin…
Die junge Heilerschülerin war fast die ganze Zeit über bei ihr gewesen, denn Nachlässigkeit – so klein sie auch sein mochte – konnte sie sich nicht erlauben. Die Getupfte hatte ihre kleine Nichte regelmäßig untersucht und ihrer Schwester Frischbeute, Wasser oder Kräuter gebracht, um sicherzustellen, dass diese auch genug Milch zur Verfügung hatte. Doch langsam ließen ihre Kräfte nach und der wenige Schlaf hinterließ seine Spuren.
Ich muss stark bleiben. Sie braucht mich!, denn auch wenn Schlammnase seine Hilfe angeboten hatte, so war es doch an ihr für die Gesundheit ihrer Patienten zu sorgen. Ich bin ihre Heilerin. Ich bin ihre Tante!
Plötzlich stach ihr ein widerlicher Geruch in ihrer feinen Nase und riss sie aus ihren Gedanken.
„Was zum…?!“, missbilligend durchsuchte sie den Frischbeutehaufen, bis sie die Ursache des Gestanks fand: mitten unter der Frischbeute lag Krähenfraß! Ein vertrocknetes Eichhörnchen in dem sich die weißen Maden hin und her wanden. Angeekelt vergrub sie es in einiger Entfernung und wusch sich die Pfoten gründlich in einer Wasserquelle.
So etwas sollte nicht geschehen… Jemand könnte krank werden…
„Tupfenpfote?! Etwas stimmt mit Herzjunges nicht!“, der panische Ruf ihrer Falkenfeders, ließ sie zusammenzucken und sofort rannte sie in die Kinderstube.
„Was ist los?!“, miaute sie energisch mit einem panischen Hauch, den sie mit einem Aufplustern ihres Pelzes zu verbergen suchte. Eben ging es ihr doch noch gut… Ich war noch vor wenigen Momenten bei ihr!
„Sieh nur…“, miaute ihre Schwester angsterfüllt und Tupfenpfote verstand was sie meinte. Das kleine Junge lag in seinem Nest, welches wohl auf den Schmutzplatz gehörte. Obwohl es erst vor kurzem neu gemacht worden war, so war es nun blutdurchtränkt und als würde das nicht schon reichen, lag das Junge nicht einfach nur da. Nein.
Seine Augen blickten trüb ins Leere und sein kleines Mäulchen öffnete und schloss sich immer wieder wie ein kleiner Fisch auf dem Trockenen, dessen Lebenskräfte ihn zu verlassen drohten. Ihre Augen… sie sind offen?
Besorgt untersuchte die getupfte Schülerin ihre Nichte so gut sie konnte. Das kleine Köpfchen fühlte sie heiß an und seine Nase war trocken, im Gegensatz zu den Augen, die blicklos offenstanden und leicht tränten.
Was ist das?! Es hat alles auf einmal?! Wie kann das sein? Als sie das Kleine vorsichtig am Bauch berührte, erbrach es ein wenig Milch und Galle. Ein piepsiges Röcheln entrang sich der winzigen Kehle.
Falkenfeder schrie entsetzt auf und ihr Gefährte presste sich besorgt an ihre Seite.
„Was tust du da mit ihr?! Du machst es ja noch schlimmer!“, mit peitschendem Schweif und vor Angst und Zorn funkelnden Augen trieb sie ihre Schwester rückwärts aus der Kinderstube. „Raus hier!“
„A-aber… aber…“, stammelte die Heilerschülerin, während sie Schritt um Schritt nach hinten trat.
„Bring mir Schlammnase!“, fauchte die junge Königin. „Er wird wissen was zu tun ist! Er ist immerhin ein Heiler, du bist nur eine Schülerin!“
Ihre Worte trafen Tupfenpfote hart, obwohl sie wusste, dass es die Angst war, die da aus Falkenfeder sprach und nicht ihre Schwester selbst. Flink drehte sie sich um und rannte zum Heilerbau. „Schlammnase?!“, rief sie entsetzt und atemlos, obwohl es sich nur um einen kurzen Sprint gehandelt hatte.
Der alte Heiler drehte sich besorgt zu ihr um und seine grünen Augen schimmerten in der Düsternis. „Du musst in die Kinderstube! Herzjunges ist krank und Falkenfeder will nur dich!“
Das graumelierte Fell des Katers stellte sich auf, als er auf die Pfoten sprang.
„Was hat sie?“
„Ich… ich weiß nicht. Irgendwie alles auf einmal. Fieber und Durchfall, aber auch Erbrechen und sie wirkt total apathisch.“ Kaum zu glauben, dass wir hier über ein Junges sprechen und nicht über einen halben Clan…
„In Ordnung.“, ihr Mentor nahm sich einige Büschel unterschiedlicher Kräuter und eilte zu der kleinen Patientin.
Tupfenpfote ließ sich ihrerseits vor dem Heilerbau nieder, stand dann aber wieder auf und tappte hin und her ohne die Kinderstube aus den Augen zu lassen.
Sie konnte nicht erkennen, was da vor sich ging, doch sie hörte die angsterfüllten Schreie von Falkenfeder und das kaum merkliche Piepsen ihrer kleinen Nichte.
Ich habe sie auf die Welt geholt… sie hat noch so viel vor sich… Warum nehmt ihr sie so schnell wieder von uns? Bitte, lasst sie bei uns., mit Tränen in den Augen blickte sie zum Himmel empor, über den eine Wolke nach der anderen zog.

Die Zeit verging so langsam und doch unaufhaltsam, wie der Sand der am Rand einer Klippe entlang rieselt – keine Möglichkeit ihn daran zu hindern.
Irgendwann, die Sonne war bereits hinter den Baumwipfeln versunken, erscholl ein schrecklicher Klagelaut, der ihr durch Mark und Bein fuhr und sie sah, wie Schlammnase die Kinderstube verließ.
Er schüttelte nur traurig den Kopf und Tupfenpfote war es, als würde sie in ein tiefes Loch fallen. Immer und immer weiter fallen, während es schwarz um sie zu werden begann. In ihren Ohren rauschte das Blut und unsicher tappte sie auf die Kinderstube zu.
N-nein… es ist nicht wahr… es kann nicht wahr sein…
Falkenfeder tobte und weinte, während Flammenseele ganz ruhig und wie versteinert in einer Ecke saß.
Tränen rannen aus ihren bernsteinfarbenen Augen, als sie die kleine Herzjunges betrachtete, die auf dem Boden lag. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Körper gesäubert und beinah sah es aus, als würde sie nur schlafen. Doch dem war nicht so, das wusste sie. Ihre kleine Nichte würde die Augen nie mehr öffnen, niemals Schülerin werden und niemals Zeit mit ihrer Familie verbringen.
Vorsichtig kuschelte sie sich an Falkenfeder, die nun aufhörte zu toben, weil in ihr angekommen war, dass es vorbei war – jeglicher Kampf vergeblich war.
Beide Schwestern ließen ihrem Schmerz freien Lauf und weinten bis ihre Tränen versiegt waren.
Irgendwann, nachdem Falkenfeder ihr ‚OK‘ gegeben hatte, trug die Getupfte das kleine Junge auf die Lichtung und rieb ihren kleinen Körper mit duftenden Kräutern ein, um sie für die Totenwache herzurichten. Lichtstern sprach ein paar Worte, doch die Heilerschülerin hörte kaum zu.
Ich habe sie verloren. Ich konnte sie nicht retten…, ihre Gedanken kreisten ohne Unterlass um ihr eigenes Versagen und die Trauer ihrer Familie.
Die Geschwister hielten aneinander gekuschelt schweigend Wache bis es die getupfte Heilerschülerin in der Stille nicht mehr aushielt.
„Es tut mir so leid, Schwesterchen. Ich konnte sie nicht retten…“, Tupfenpfote flüsterte leise und die Trauer umspülte sie wie eine riesige Welle, die sie unter sich zu begraben drohte.
„Stimmt.“ Nur dieses eine Wort und doch zerbrach etwas in der Schülerin.
Ich bin Schuld und sie... glaubt das auch., alles fühlte sich auf einmal fremd und weit, weit weg an – die Welle hatte sie unter sich begraben. Ich bin Schuld.


Bild von @cinnabrook (Instagram)

The Betrayal Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt