„Hey!"
Mein Blick wanderte zu der Verursacherin des äußerst lauten und unangenehmen Geräuschs. „Was?!"
„Du bist mit den Gedanken schon wieder ganz woanders, nicht wahr? Etwa bei deinem Thomas?", neckte Zoe, die neben mir auf der Couch lag, beide Arme auf der Lehne, die Füße auf den Hocker vor ihr.
„Zum tausendsten Mal, er ist nicht MEIN Thomas!"
Zoe kichert und ignorierte geflissentlich meine erdolchenden Blicke. „Aber er könnte es sein! Du weißt schon, mit Haut und Haar und-"
„Zoe!", fuhr ich sie an. In Gottes Namen - konnte sie nicht einmal damit aufhören...
„Was? Willst du etwa behaupten, dass du dich mit ihm triffst, um über stinkende Wälzer zu reden?"
Ich zögerte einen Moment, um meine Antwort zu überdenken. „Ja."
Meine beste Freundin schnaubte laut und griff nach der Flasche Bier auf dem Tisch. „Aber wenn das so ist, kannst du dich ja auch auf den Film konzentrieren!"
„Ich bin eben müde!", widersprach ich.
„Sicher."
„Und außerdem haben wir Frozen schon sicher zwölfmal gesehen – ich weiß was passiert!"
Doch Zoe ignorierte mich, starrte weiter auf den flimmernden Bildschirm und ich seufzte. Tief. Dann riss ich mich zusammen und begann mich auf Elsa und den komischen Schneemann zu konzentrieren, dessen Namen ich immer vergaß und jeglichen Gedanken an das Date gestern zu verdrängen. Und an das Buch, welches unangetastet in meiner Tasche lag.
Jemand hatte eine abgenutzte Ausgabe von Romeo und Julia für mich bei Madame Dubois abgegeben und einen kleinen, grell-gelben Notizzettel hineingeklebt. Auf, dass du doch noch deine Meinung änderst, stand darauf.
Gerade so, konnte ich ein weiteres Seufzen verhindern. Dieser Typ ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf – fast wie ein Krebsgeschwür. Einmal infiziert, wurde man es nur schwer los. Doch etwas in mir wehrte ich gegen die Vorstellung von Thomas als Krebsgeschwür. Zumal Krebsgeschwüre sicher nicht so verdammt heiß aussahen.
Und genau das hatte zu dem größten Fehler meines Lebens geführt – Tyler. Ich hatte ich wie fanatisch versucht ein normales Leben zu führen und damit vielleicht glücklich zu werden – wo ich es zu Hause schon nicht hatte. Und dazu hatte für mich ein Freund gehört. Als Tyler, ein Junge, den ich im Nachhinein vielleicht als Bad-Boy bezeichnen konnte, und ich uns auf der Party einer Freundin kennengelernt hatten, war für ihn klar gewesen, dass ich seine Traumfrau sei. Und ich hatte mich mitreißen lassen.
Ich hatte kein Kribbeln im Bauch und auch kein Herzflattern, wenn ich mich mit ihm traf, nur Angst, das einzig normale in meinem Leben zu verlieren. Auch wenn ich heute wusste, dass diese Beziehung alles anderer als normal gewesen war. Als wir uns das erste Mal küssten, war es, weil er es gewollt hatte – nicht ich. Und als wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, hatte ich hinterher nichts anderes gewollt, als mich in einem Loch zu verkriechen.
Dabei gab ich Tyler nicht einmal die Schuld für unsere miserable Beziehung. Ich hatte ihm nie gesagt, dass ich ihn nicht wollte, zumindest nicht wirklich. Ich hatte normal sein wollen, so wie die anderen Teenager. Und als ich es nicht einmal mehr aushielt ihm ins Gesicht zu sehen, habe ich die Beziehung beendet. Tyler verstand bis heute nicht, warum.
Aber mit Thomas war es völlig anders. Er drängte nicht. Es schien fast, als würde er die rein platonische Buchclub-Idee wunderbar finden. Und ich musste zugeben, dass ich die beiden Gespräche mit ihm genossen hatte. Vielleicht sogar zu sehr.
Und gerade deswegen hatte ich das Buch noch nicht angefasst. Denn ich wusste, würde ich es tun, gäbe es kein Zurück mehr. Ich würde Thomas unweigerlich mein Herz öffnen und es mir von ihm auch wieder brechen lassen.
„Ich geh ins Bett, Zozo", verkündete ich schließlich gähnend und drückte mich vom Sofa. „Gute Nacht."
„Damit du morgen ausgeschlafen bist, für ein weiteres Buchclub-Treffen?", meckerte sie und breitete sich genüsslich auf der Couch aus.
„Nein, morgen treffe ich mich mit meinem Vater – aber darum geht es auch gar nicht. Der Tag war einfach anstrengend und ich bin müde."
Ich konnte förmlich spüren, wie sie die Augen verdrehte. Ich atmete tief aus und ging schnurstracks in unser Badezimmer, um mich Bettfertig zu machen. Auch, wenn ich vermutlich noch stundenlang nicht würde schlafen können.
In meinem Zimmer angekommen ließ ich mich erschöpft aufs Bett fallen. Das Licht der Straßenlaterne vor dem Haus sendete einige Strahlen herein und ließ das Glas der unzähligen Bilder auf der gegenüberliegenden Wand erleuchten. Die Bilderwand zeigt unterschiedliche Fotos, viele von Zoe und mir, einige von meiner Highschool-Zeit, andere von meiner Maman und mir. Doch eines davon stich mir besonders ins Auge.
Meine Mutter und ich waren nie besonders reich gewesen, deswegen waren Urlaube nur selten möglich gewesen, doch als ich 15 Jahre alt gewesen war, hatte meine Mutter beschlossen, dass ich zumindest einmal etwas anderes außer Brighton gesehen haben sollte. Wir hatten unsere Koffer gepackt, ins Auto geladen und hatten eine Fähre nach Frankreich genommen. Von dort aus waren wir so lange von Stadt zu Stadt gefahren, bis selbst sie sich nicht mehr zurechtgefunden hatte.
Irgendwie waren wir dann in einer, vergleichsweise kleinen, französischen Hafenstadt gelandet. Dort hatten wir uns auf einem Campingplatz eingemietet und eine wunderbare Woche unter Leuten verbracht, die uns weder kannten, noch meine Mutter wegen ihres Zustandes schief ansahen.
Am Tag vor unserer Abreise waren meine Mutter und ich noch am dortigen Hafen und haben einigen Fotos geschossen, darunter auch jenes Foto, das mir heute noch die Kehle zusammendrückte.
Im Hintergrund der weitläufige Hafen und die untergehende Sonne, vorne das strahlende Gesicht von meiner Mutter und mir. Ein gestohlener Moment des Glücks.
Du bist das Wichtigste in meinem Leben, ma petite. Und egal was passiert, ich will das du glücklich wirst. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich die schwache, von Krankheit gezeichnete Stimme meiner Mutter im Kopf hörte. Doch ich blinzelte die Tränen nicht weg, ließ sie wie ein Strom fließen, bis sie auf meiner Haut getrocknet und das erdrückende Gefühl auf meiner Brust verschwunden war.
Dann glitt mein Blick zu dem Buch, dessen abgenutzter Einband aus meiner Tasche lugte. „Und was ist, wenn er mich schlussendlich nur unglücklicher macht?", fragte ich in die erdrückende Stille hinein.
Natürlich, wenn man Glück hat, findet man die Liebe seines Lebens in der Highschool, heiratet, bekommt 2,3 Kinder und baut ein Haus mit weißem Lattenzaun. Aber meistens ist die Liebe genau das nicht – sie ist wild, kompliziert und voller Tragik. Und oft viel zu schnell vorbei.
„Ach, scheiß drauf", sagte ich und sprang auf, um mir Thomas' Buch zu holen.
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The Way of our Hearts - Ist Liebe Stärker als die Angst?
Chick-LitIst Liebe stärker als die Angst? Nach dem Verlust ihrer Mutter hat Nadiya Lacroix nur ein Ziel - ihr Studium am University College London beenden und einen Job als Psychologin bekommen. Und natürlich die Schulden bei ihrem Vater begleichen. Liebe ha...