19. Kapitel

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Ich hatte heute Nacht wirklich miserabel geschlafen. Nicht nur, dass ich den gestrigen Abend frustriert, Eis in mich hineinstopfend vor dem Bildschirm verbracht hatte, nein, unsere Nachbarn hatten einmal wieder eine Ehekrise durchlaufen und ich durfte ihrem lautstarken Gebrüll lauschen.

Nie in meinem Leben hatte ich das Wort „Midlife-Crisis" so oft hintereinander gehört...

Jetzt wusste ich zumindest, dass der Herr nebenan, ein Bürohengst sondergleichen, in regelmäßigen Abständen seine zehn Jahre jüngere Sekretärin gevögelt hatte, was wiederum der Dame des Hauses überhaupt nicht gefallen hat, als eine andere Kollegin ihres werten Gatten ihr davon erzählt hatte. Oder was es die Schwester gewesen, die selbst etwas mit ihrem Schwager hatte?

Langsam hatte ich die Vermutung, dass so ziemlich alle Leute in meiner Umgebung in einer Beziehungskrise steckten...

Manchmal hoffte ich nurmehr, dass die beiden sich einfach scheiden ließen, dann musste ich nurmehr das Gebrüll von einem der beiden ertragen.

Das einzig Positive an der Sache war, dass ich viel zu beschäftigt war den Lärm auszublenden, als mich eingehen mit meinem Date zu beschäftigen, das mehr als nur in die Hose gegangen war. Nicht mal Zoe war hier gewesen, um mich etwas abzulenken.

Dass ich heute auch noch eine wichtige Modulprüfung geschrieben hatte, machte die Sache auch nicht besser.

Missmutig gelaunt kam ich also nach Hause, ging die drei Stöcke bis zu meiner Wohnung hoch und wurde von sonderbaren Geräuschen empfangen, die direkt aus dem Inneren des Apartments zu dringen schienen.

Ein Stöhnen?

Hatten sich meine Nachbarn etwa doch wieder vertragen? Oder war die berüchtigte Sekretärin auf ein „Kaffeekränzchen" vorbeigekommen?

Ich blieb für einen Moment auf dem kurzen Gang stehen, der unsere Wohnungen trennte, und horchte gespannt, was in der Nebenwohnung passierte. Eigentliche interessierte es mich ja gar nicht, was meine beiden Nachbarn in ihrer Freizeit so trieben, oder mit wem, aber eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Neugierde zwang mich dazu.

Ich machte einen Schritt in Richtung ihrer Tür, musste jedoch feststellen, dass das Geräusch, das auf jeden Fall ein aufgeheiztes Stöhnen war, aus meiner Wohnung zu kommen schien.

Ich blinzelte mehrmals und drehte mich in Zeitlupe zu meiner Tür. Konnte es sein, dass Zoe wieder einen ihrer Typen mitgebracht hatte? Und wenn ja, warum klang die Stimme dann wie eine Frau?

Schnell ging ich jedes mögliche Szenario durch, warum jemand auf höchst auffällige Weise in MEINER Wohnung herum stöhnen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass mir, in jeden Fall, nichts anders übrigbleiben würde, als nachzusehen.

Langsam näherte ich mich der Tür und begann sie leise mit meinem Schlüssel aufzusperren, während ich gleichzeitig nach meinem Handy kramte, um 112 zu wählen. Man konnte ja nicht wissen, ob da nicht doch ein Einbrecher in der Wohnung saß. So wahnwitzig die Idee auch klingen mochte.

Mit einem mehr oder weniger leisen Klack schloss ich dir Tür auf und musste feststellen, dass die Geräusche nur lauter wurden. Und dass es plötzlich zwei Stimmen waren, die um die Wette stöhnten.

Ohne es zu wollen, begann ein roter Schimmer über meine Wangen zu kriechen, während ich bewaffnet mit Handy und Schlüssel durch die Wohnung schlich.

„Ja, bitte! Nur noch ein bisschen!"

Ich blinzelte. Das durfte doch wohl nicht-

Doch als ich mit einem Ruck die Tür zu Zoes Zimmer aufstieß, entdeckte ich niemand anderen als meine beste Freundin, die sich gerade mit meiner Halbschwester vergnügte. Nackt.

* * *

„Ich fasse es nicht!", fuhr ich die beiden empört an.

Ich hatte ja schon vieles erlebt. War als Kind fünfmal umgezogen, hatte keine richtige Vaterfigur, da der echte Dad ein Arsch war, aber eine beste Freundin zu haben, die einen hinter dem Rücken mit der eigenen Halbschwester betrog war dann doch auch etwas Neues für mich.

Helen, die vor einigen Sekunden noch unter meiner besten Freundin gelegen hatte, richtete sich blitzschnell auf und sah mich mit offenem Mund an. „Nadiya, ich, äh...", begann sich zu stottern.

„Ihr wusste ja, dass du vorhattest in Brighton zu studieren, aber dass du auch mit meiner besten Freundin ins Bett hüpfst, hast du wohl vergessen zu erwähnen!", schrie ich ihr anklagend entgegen.

„Es...es ist nicht so wie es aussieht-", begann nun auch Zoe zu stottern.

„Ist es das?", empörte ich mich. „Es sieht nämlich verdammt danach aus, als hättet ihr beiden euren Spaß gehabt! Hinter meinem Rücken!" Und als wäre das nicht schon schlimm genug hatte sie gerade Zoe erwischt! Mit ihrer Halbschwester!

Der ganze Stress und die Aufregung taten ihr übriges und mit einem Mal wurde mir kotzübel. Ich drückte mir eine Hand gegen den Bauch im Versuch den plötzlichen Anfall von Übelkeit nicht auf der Toilette ausbaden zu müssen und starrte die Szenerie vor mir weiter fassungslos an.

Auch half es nicht dabei, dass beide Beteiligten sich halbnackt am Bett wälzten und ich nicht wusste, wo ich hinschauen sollte.

„Naya-", versuchte Zoe es erneut mit gefasster Stimme.

„Du kannst mich mal mit deinem Naya!", fauchte ich ihr entgegen. „Du wusstest, dass es mir schlecht ging! Und dann beginnst du hinter meinem Rücken eine Affäre? Ausgerechnet mit ihr?!" Anklagend richtete ich den Zeiger auf meine Halbschwester, die sich das weiße Laken bis hoch zu den Schultern gezogen hatte und wie ein Gespenst aussah.

„Und genau aus diesem Grund haben wir es dir verschwiegen! Ich wusste, dass du so reagieren würdest!"

„Ich hätte es sicher um einiges besser verkraftet, wie wenn ich dich nicht in UNSERER Wohnung dabei erwische!"

„Sicher!", schnaubte Zoe und ging weiter auf Konfrontationskurs. „Aber wenn wir schon dabei sind, das hier ist, wie du ganz richtig gesagt hast, auch meine Wohnung und das hier ist mein Zimmer. Wenn ich dich jetzt in aller Höflichkeit dazu bringen könnte MEINEN Raum zu verlassen? Helen und ich waren gerade eben noch beschäftigt, als du hier eingebrochen bist."

Mir klappte die Kinnlade herunter. „Sie ist dir wichtiger als ich?", fragte ich fassungslos.

Zoe schloss für einen Moment die Augen. „Es geht hier nicht darum, wer mir wichtiger ist, Nadiya. Ich...ich weiß nur, dass ich sie mag. Und dass ich nicht zulassen werde, dass du deine Probleme mit deinem Vater auf Helen und mich umwälzt. Sie ist nicht diejenige, mit der du Streit hast."

Ihre Worte fühlten sich an, als hätte mir jemand einen Kübel mit eisigem Wasser über den Kopf gelehrt. Sämtliche Wut war verraucht. Zurück blieb nur ein durchdringender Schmerz, der mich seit dem Verlust meiner Mutter wie ein Schatten begleitete.

„Außerdem", fügte Zoe hinzu, „ist es nicht so, als hätte ich nicht versucht, mit dir darüber zu reden. Als wir vor ein paar Wochen im Pub waren, da habe ich versucht es dir zu erzählen, aber dann hast du mir gerade von deinem Streit mit deinem Vater erzählt und es fühlte sich nicht passend an."

„Und danach? Hättest du dir keinen einzigen Zeitpunkt danach aussuchen können, um mit mir darüber zu reden?", fragte ich Zoe. Meine Augen brannten von den Tränen, die ich mühsam zurückhielt und meine Stimme war rau geworden.

„Nein! Denn immer, wenn ich vorhatte mit dir darüber zu reden, da kam etwas dazwischen. Oder jemand. Und als es mit Thomas wieder gut lief, kam es mir falsch vor dich damit zu belasten. Ich weiß, dass du in den letzten Jahren viel durchgemacht hast, da wollte ich dir diese Momente gönnen!"

Für einige Sekunden herrschte Stille im Raum, dann begann Helen sich zu bewegen. „Ich glaube, es wäre besser, wenn ich gehe. Nadiya, ich wollte auch nicht, dass du es so erfährst, es tut mir leide." Dann drehte sich kurz zu meiner besten Freundin um, während sie ihre Kleidung aufsammelte. „Ruf mich später einfach an."

Ich stand noch immer erstarrt im Türrahmen, als meine Halbschwester sich mit einem letzten entschuldigenden Blick an mir vorbeidrückte und hastig die Wohnung verließ.

The Way of our Hearts - Ist Liebe Stärker als die Angst?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt