Kapitel 3

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Am nächsten Morgen machte ich mich früh in die Schule auf. Ich hatte meine Entwürfe in der Tasche, um sie Prim oder sogar Katniss zu geben, falls ich sie sah.
Eilig lief ich die Straßen entlang. Dann blieb ich ruckartig stehen. Dort waren Gale und Katniss und sie küssten sich! Nicht, dass ich nicht schon immer gewusst hatte, dass zwischen ihnen etwas war, aber sie musste doch die Verlobte von Peeta Mellark spielen. Wenn sie dabei jemand erwischte, waren sie Tod, zumindest mein Bruder.
Ich sah mich verschlagen um. Zum Glück sah ich niemanden, es wäre ja noch schlimmer, wenn sie jemand sehen würde. Schnell machte ich kehrt und nahm einen anderen Weg und ließ sie in Ruhe, niemand dufte davon erfahren und auch sie sollten nicht wissen, dass ich sie gesehen hatte.
Der Weg war länger und führte über den Markt. Ich sah Peeta, der wohl gerade auf den Weg in die Bäckerei war. Es war schon traurig, dass seine Familie es abgelehnt hatte, bei ihm zu wohnen. Seine Familie stand nicht hinter ihm, außer vielleicht der Bäcker, den ich wirklich ganz gut leiden konnte. Einmal hatte er mir und Prim Kekse geschenkt, zwar waren sie ein wenig verkohlt und dadurch unbrauchbar für den Verkauf, aber gefreut hatten wir uns irrsinnig.
"Hi Peeta, war die Tour der Sieger gut?", ich hatte es gestern nicht viel mit ihm geredet, denn wir waren gleich nach dem Essen gegangen und irgendwie hatten Peeta und ich uns verpasst. Natürlich war die Tour nicht gut, das wusste auch ich, aber die Wahrheit sollte ich lieber nicht aussprechen. Unauffällig bleiben, war meine Devise.
"Ja, die anderen Distrikte waren wirklich interessant", antwortete er knapp.
Unser Verhältnis war schon ziemlich eigenartig, ich wusste selbst nicht warum ich ihn kannte. Gale konnte er noch nie richtig leiden, vielleicht wegen Katniss. Ich hatte das Gefühl, dass er es mit ihr ernst meinte. Durch Prim konnte er mich auch nicht kennen, denn sie kannte er auch nicht wirklich, er wusste nur, dass es Katniss Schwester war. Vielleicht lag es auch einfach an der Sympathie, die wir für einander empfanden. Es war schwer zu erklären. Eigentlich hatte es sich nur durch "Hallosagen" und ein paar Komplimente entwickelt. Jedenfalls schienen wir jetzt ein Verhältnis entwickelt zu haben, das zwar noch nicht Freunde, aber auch mehr war als Bekannte, es war etwas dazwischen. Vertraute oder wie man in den Spielen gerne sagte: Verbündete, obwohl man diesen Begriff auch sehr weit fächern konnte. "Bis dann Peeta, man sieht sich", und damit war unser Smalltalk beendet.
Ich betrat den Klassenraum und erblickte meine Freundin an ihrem gewohnten Platz. Ich setzte mich neben Prim und hörte dem Unterricht zu. Es war wirklich erniedrigend, sich zwei Stunden lang anzuhören, wie toll es im Kapitol sei und dazu noch das süffisante Grinsen des Lehrers, der ganz genau wusste, dass die hälfte der Klasse fast jeden Tag hungern mussten. Am liebsten nahm er dann auch noch mich ran, denn er wusste, ich war zwar nicht doof, aber ich hatte nicht viel Zeit zum lernen und dementsprechend sahen auch meine Noten aus und außerdem sah ich es nicht ein, diesem Ekel in den Arsch zu kriechen. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht und das jeden Tag aufs neue. Mit einem Blick auf Prim erkannte ich, dass es ihr genauso ging wie mir, aber seit Katniss Sieg bevorzugte der Lehrer sie in jeder Situation, noch aus jeder so falschen Aussage, pickte er die Wahrheit und Prim stand dann immer ganz verdattert da.
Noch vor ein paar Monaten hatte ich Angst gehabt, dass es sie vielleicht verändern würde, wenn sie nun im Siegerviertel wohnen würde, aber das war natürlich Quatsch gewesen. Die Kinder aus dem Reichenviertel hatten ihr ein paar mal Angeboten jetzt mit ihnen abzuhängen, doch Prim hatte immer abgeblockt. Als sie dann zum wiederholten Mal gefragt wurde, reichte es ihr endgültig und sie hatte ihnen klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse an ihrem falschen Gehabe hatte und sie gefälligst in Ruhe gelassen werden wollte. Nie hätte ich gedacht, dass sie einmal so ausflippen würde, aber selbst Prim, die Ruhe in Person, konnte sich wehren wenn sie wollte, sie war stark.
~~*~~
Ich stand an unserer Haustür. Rory, Vick, Posy und Mum saßen schon am Esstisch. Ich wartete auf Gale, er war spät dran. Vielleicht hatte ja doch jemand ihren Kuss gesehen und er wurde irgendwo festgehalten.
"Ich bin gleich wieder da!", rief ich in die Küche.
Meine Mutter rief mir noch etwas hinter her, wie "das bringt doch nichts" oder so.
Ich machte mich auf den Weg zum Zaun und kletterte hindurch. Katniss Pfeil und Bogen waren da, also waren sie nicht mehr im Wald. Ich kehrte um und sah eine riesige Rauchschwade in der Stadt.
Oh nein, der Hob! Was war geschehen? Ich wusste nicht, woher ich es so schnell erkannte, aber in mir bahnte sich eine Vorahnung an. Oft war ich nicht auf dem Hob gewesen, da man, wenn man mich denn erkannte, mich bei meinem Bruder oder Katniss verpfiffen hätte. Ich rannte auf den Rauch zu. Auf dem Weg kamen mir immer öfter Friedenswächter entgegen. Sonst waren es noch nie so viele gewesen. In einer Straße erkannte ich Katniss, sie half einigen der Leute, die einen Stand auf dem Hob hatten und verletzt waren.
"Katniss! Wo ist Gale? Er ist nicht nach Hause gekommen!", ich lief eilig auf sie zu. Ich war froh sie zu sehen. Keuchend kam ich vor ihr zum Stehen.
"Eben war er noch bei mir", sagte sie und blickte sich um. Sie schien leicht verängstigt zu sein und wohl zu Recht, Schmerzensschreie waren vom Markt aus zu hören und das zischen einer Peitsche. Gale! Es war unverkennbar. Er hatte sich sicher für die Leute auf dem Hob eingesetzt und man hatte ihn erwischt oder er hatte Jagdbeute bei sich gehabt.
Ich vergaß alles und sprintete zum Marktplatz, denn das war der größte Platz im Distrikt und wenn man jemanden vor aller Öffentlichkeit bestrafen wollte, dann dort. Katniss war schneller da und stellte sich schützend vor meinen Bruder. Er war an eine der neuen Foltermaschinen gekettet, sie waren wohl gerade erst aufgestellt worden. Erschreckt blickte ich mich rasch auf dem einst so fröhlichen Platz um, wenn ein Platz in Distrikt zwölf fröhlich war, dann dieser hier, neben dem Wald natürlich. Manchmal trafen hier einfach verschiedenste Menschen auf einander und unterhielten sich, ohne Hass oder Abscheu, und die Kinder spielten unbesonnen miteinander, doch nun sah man verängstigte Menschen, in den meisten von ihnen spiegelte sich nur die Angst in den Augen wieder, doch manche sahen auch mitleidig aus. In der Mitte des Platzes standen die Bestrafungsinstrumente und die Friedenswächter zäunten das ganze Gelände ein, indem sie ganz nah aneinander standen. Wir waren der Mittelpunkt des Geschehens.
Ich kniete mich neben Gale in den kalten Schnee. Sein Rücken sah gar nicht gut aus, es hingen nur noch ein paar Haut Fetzen herunter, er stand an der Schwelle der Bewusstlosigkeit.
"Verschwindet hier... Lil hau ab!", sagte er unter Schmerzen. Er verzog ganz komisch das Gesicht und schaute mich voller Sorge und Schmerz an.
Ich hörte wie Katniss mit dem Friedenswächtern stritt und dieser war damit gar nicht zufrieden.
"Ich bleibe, ich lass dich nicht alleine!", sagte ich mit Schluchzern durchzogen. Ich hatte angefangen zu weinen. Wir hatten uns in der letzten Zeit so oft gestritten und nun war es umso schlimmer für mich, ihn so leiden zu sehen. Er war mein Bruder, ein Teil meines Herzens.
Ich merkte zu spät, dass die Peitsche auf mich herunter sauste. Eigentlich merkte ich es nur wegen dem Schmerz und Gales Schreck verzerrtem Gesicht. Es tat höllisch weh, ich hatte nur einen Wollpulli und eine Hemd an, beides half überhaupt nichts. Es war, als hätte ich nichts an. Ich schrie auf. Ich war irgendwie ein wenig benommen. Ein zweiter Schlag machte es nicht besser. Vernebelt nahm ich war, dass jemand Gale los band und der neue oberste Friedenswächter eine Ausgangssperre verhängte. Es war der selbe der mich geschlagen hatte, uns geschlagen hatte.
Wir gingen in das Dorf der Sieger, irgendwer trug mich, ich glaube es war Peeta, denn er roch nach frisch gebackenem Brot und sein Gang war leicht unregelmäßig, wegen seiner Beinprothese, die er durch die letzten Hungerspiele bekommen hatte. Mein Kopf lehnte an seiner Schulter und ich schloss die Augen, um mich zu sammeln. Ich spürte, wie er die Treppen hinauf lief und jemand die Tür auf riss. Prim kam auf uns zu. "Was ist passiert?", fragte sie und Peeta antwortete:"Neuer oberster Friedenswächter." Er ließ mich auf einen Stuhl gleiten.
Prim kam auf mich zu, ich erkannte einen winzigen Funken Sorge in ihrem Blick. "Was ist mit dir passiert?", fragte sie ernst. Anstatt ihr zu antworten, zog ich meinen Pullover über den Kopf und zog zischend die Luft ein, denn ich hatte es nicht gerade sanft getan, Prim half mir schnell.
Sie drehte sich meinem Rücken zu."Es sieht nicht so schlimm aus. Wir müssen es trotzdem verbinden und desinfizieren", meinte sie, doch ich hörte ganz klar, dass es doch nicht ganz so leicht zu nehmen war, aber es größere Probleme gab.
Es war wirklich erstaunlich, wie meine beste Freundin in die ernste Rolle der Heilerin schlüpfen konnte. Nachdem sie meinen Verband angelegt hatte, klingelte das Telefon. Zu allem Überfluss wuselte auch noch der Hund zwischen den Beinen hindurch und brachte mich fast zum Stolpern. Ich nahm ihn hoch und verfrachtete ihn in ein Arbeitszimmer, wo er nicht störte.
Prim hatte viel zu tun und die anderen waren auch alle über meinen Bruder gebeugt. Benommen ging ich zum Hörer und nahm ab. "Hallo? Familie Everdeen ist gerade beschäftigt, soll ich ihnen etwas ausrichten?", lallte ich fast in den Hörer. Was mochte wohl der Anrufer von mir denken?
"Hier ist Cinna. Bist du das Liliana? Was ist passiert, soll ich später zurück rufen?" Mir fiel beinahe der Hörer aus der Hand. Cinna klang sehr besorgt, er schien zu spüren, dass die Lage ernst war.
"Ja, wir haben einen neuen obersten Friedenswächter. Wie wichtig ist der Anruf denn?", ich hatte mich schnell gefasst und konzentrierte mich, ganz genau auf das was ich sagte.
"Nun ja, es geht um dein Praktikum. Entscheide selber, ob du jetzt mit mir reden willst", sagte er, ganz ruhig und gelassen.
Ich dachte nach, vielleicht war das Praktikum gerade das Ziel, was ich brauchte um die schwere Zeit, die auf uns zukommen würde durchzustehen. Ich seufzte und sagte:"Na gut, schieß los. Ich bin eh schon die ganze Zeit gespannt."
Gerade hetzte Peeta heraus, um neuen Schnee zu holen und Prim suchte noch mehr Kräuter zusammen, Katniss kniete neben meinem Bruder und versuchte ihn zu beruhigen oder wahrscheinlich eher sich selbst und irgendwer rief, man sollte meine Mutter holen, es war ein geordnetes Chaos. Ich ließ mich wieder auf einen Stuhl fallen, denn ein Schwindel kam über mich.
"Wenn du meinst, also durch meinen angesehenen Stand im Kapitol, den ich erlangt habe, habe ich ein Visum für dich erlangen können, mach dir keine Sorgen um das Geld, davon habe ich wahrlich genug. Du wirst im Sommer zu mir ins Kapitol kommen und dein Praktikum bei mir absolvieren, wenn nichts dazwischen kommt."
Ich wusste was er meinte, die Ernte, falls nicht die Hungerspiele dazwischen kamen.
Wenn die Gewinner nicht taten, was man ihnen sagte, nahm das Kapitol gerne Verwandte der Sieger und schickte sie in die Spiele und als weibliche Tribute kamen da nur Prim und ich in Frage, Posy war ja noch zu jung. Nicht, dass ich Katniss nicht vertraute, aber es waren schlimme Zeiten und nach der Beerensache in den letzten Spielen, beäugte man sie ganz genau. Ich verabschiedete mich noch schnell und legte auf. So richtig konnte ich mich nicht über die Nachricht freuen, dafür war mein erdrückendes Sorgengefühl zu groß.
Ich übernachtete diese Nacht bei Prim im Zimmer. Noch lange starrte ich in die Dunkelheit und dachte darüber nach warum dies alles passierte. Ich drückte mich verzweifelt an den kleinen Welpen an meinem Bauch und kraulte ihm das Fell. Sein ruhiger Atem und seine Gelassenheit, aber vor allem seine kuschelige Wärme, brachte mich zum Einschlafen.

Die Tribute von Panem - Unerwartete RettungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt