All in or nothing

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Juliette Streich

„Ihr müsst miteinander reden!"

„Maria, ich weiß!", entgegnete ich gereizt und stopfte die letzten Unterlagen in meine Tasche.

Es herrschte reges Treiben im Lehrerzimmer und die bohrenden Blicke von Maria Hof trugen zu dem Stress bei, den ich sowieso schon hatte.

„Wenn du willst kannst du bei mir vorbeikommen und mit ihr re-"

Ich ließ meine Tasche auf den Stuhl fallen und bedachte Maria mit einem harten Blick. Die Blonde vor mir zuckte leicht zusammen. Fieberhaft überlegte ich die netteste Beleidigung die ich ihr an den Kopf hämmern konnte, doch dann schüttelte ich nur den Kopf und schulterte meine Tasche.

„Maria, es tut mir leid...", sagte ich und meinte es auch so, „Dass du so zwischen die Fronten kommst und all die negativen Gefühle abbekommst. Ich bin aber noch nicht bereit zum Reden und Anna allem Anschein nach auch nicht. Das ist gerade völlig okay. Wir brauchen etwas Abstand voneinander und von der Situation."

Anna besonders. Sie war für eine ganze Woche krankgemeldet und vorläufig bei Maria untergekommen. Ich pendelte zwischen meinem alten Kinderzimmer bei meinen Eltern und der gemeinsamen Wohnung von Anna und mir hin und her.

„Verstehe", kam es leise und traurig von Maria.

Bald würde ich bereit sein, Anna wiederzusehen und mit ihr alles zu bereden. Bald oder irgendwann. Gerade war ich mit meinem Kopf wo anders, stürzte mich in Arbeit und probierte alles, um nicht über unseren Streit und unsere Situation nachzudenken. Normalerweise war ich immer drauf bedacht, alles schnell zu klären, damit Anna und ich uns wieder vertrugen. Dieses Mal war es anders. Ich brauchte Abstand zu der Situation und war froh, nicht mit Anna konfrontiert zu werden. Etwas sagte mir, dass es ihr ähnlich ging. Sonst hätte sie sich schon gemeldet, doch seit der letzten Auseinandersetzung vor vier Tagen herrschte Funkstille zwischen uns. Nur von Maria wusste ich, dass Anna bei ihr untergekommen war und es ihr den Umständen entsprechend ging. Vielleicht tat es ihr gut, bei Maria zu sein. Vielleicht vermisste sie mich. Vielleicht vermisste sie mich nicht. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Ärgerlich schnaubte ich. Noch drei Stunden, dann hatte ich endlich Feierabend. Würde ich heute bei meinen Eltern im Haus schlafen oder im großen, kalten Bett, in der Wohnung von Anna und mir?

————

Es war Sofia gewesen, die sich bei mir gemeldet hatte und gefragt hatte, ob wir heute Abend telefonieren könnten. Sie klang so komisch, dass ich sie unter keinen Umständen abgewiesen hätte. Als sie am Abend dann anrief, saß ich im Schneidersitz auf meinem alten Bett, in meinem alten Kinderzimmer, das meine Eltern nach meinem Auszug nur leicht verändert hatten. Nun fungierte es als sporadisches Gästezimmer, auch wenn noch fast alle meine Sachen aus meiner Jugend in ihm waren. Mein Schreibtisch war jetzt kahl, doch die Bilder hingen noch über ihm. Auch das große Plakat einer meiner Lieblingsbands hing noch neben dem Bett, auf dem ich saß.

Mein Bücherregal war einem Schrank gewichen, indem, wie ich wusste, Kisten mit Erinnerungsstücken von mir neben Aktenordnern meiner Eltern standen. Dort, wo mein Kleiderschrank gestanden hatte, waren nun ein gemütlicher Sessel und eine Stehlampe. Es war mein Zimmer und doch war es dies eben nicht mehr.

Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und konzentrierte mich auf die Stimme meiner besten Freundin, die mir gerade von ihren Bewerbungen erzählte. Ohne groß zuzuhören wusste ich, dass Sofia mir all dies nur erzählte, um dem eigentlichen Grund, weshalb sie angerufen hatte, auszuweichen.

„Sofia, was ist wirklich los?", unterbrach ich die dünne Stimme meiner Freundin.

Stille am Ende der Leitung, dann hörte ich Sofia geräuschvoll einatmen und wieder ausatmen.

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