Lieben lernen

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                           Anna Lilienthal

>>Lass uns dort treffen, wo wir uns das erste Mal geküsst haben.<< hallte es in meinem Kopf den ganzen Weg von Marias Wohnung bis hoch zum Wasserturm wieder.

Wiedererwartens war ich unglaublich ruhig und gefasst. Ich war weiß Gott nicht auf alle Möglichkeiten gefasst, wie das Gespräch verlaufen könnte, doch ich probierte mir nicht allzu viele Gedanken zu machen. Ich wusste, was ich wollte. Die Kielsteine knirschten unter den Reifen meines Autos, als ich auf den Parkplatz des Wasserturms fuhr. Von unten konnte ich nicht sehen, ob Juliette bereits oben war oder noch nicht. Mein Auto war das einzige auf dem kleinen Parkplatz.

An diesem Abend war es ungewöhnlich kalt für den Sommer, sodass ich mir eine Jacke überwarf, als ich meinen Audi verließ. Mit federnden Schritten erklomm ich die vielen Treppen, die hoch zu der Aussichtsplattform vor dem grauen Turm führten. Trotz meines aktiven Hockeytrainings keuchte ich, als ich endlich oben angekommen war. Ich brauchte einen Moment, um meinen Atem zu kontrollieren und dann sah ich sie. Sie stand an dem Geländer mit dem Rücken zu mir. Vor ihr erstreckte sich die Stadt, die nur noch aus vielen kleinen Lichtern bestand. Die Sonne war untergegangen und schemenhaft spendeten die Laternen, die sich entlang der Aussichtsplattform erstreckten, Licht.

Jetzt war die Gelassenheit verflogen und Nervosität breitete sich schnell in meinem ganzen Körper aus. Vorsichtig und zögernd ging ich auf Juliette zu. Sie schien mich immer noch nicht bemerkt zu haben.

„Hey", krächzte ich und räusperte mich sofort.

Auch meine Stimme schien mich zu verlassen. Juliette schnellte herum und sah mich mit ihren Schokoladenaugen an. Für einen Moment sagte sie nichts, doch dann erwiderte sie meine Grußfloskel. Ich lehnte mich ebenfalls an das Geländer und ließ die Aussicht auf mich wirken. Wir waren zwar seit unserem ersteren Kuss hier schon sehr oft wieder am Wasserturm gewesen, doch heute fühlte sich anders an. Bedeutender. Ungern wollte ich die Erste sein, die die Stille brach, deswegen schwieg ich weiter. Juliette schien es genauso zu gehen, doch sie ergriff schließlich das Wort.

„Ich... Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll", begann sie zögerlich, „Vielleicht erst mal danke, dass du gekommen bist..."

Immer noch schweigend nickte ich nur. Es fühlte sich viel zu förmlich und fremd zwischen uns an.

„Also...", begann Juliette erneut, doch brach dann wieder ab und lachte kopfschüttelnd. „Fuck, ich war immer eine Freundin großer Worte, doch jetzt..."

Hilflos hob sie die Schultern und ließ sie gleich wieder fallen. Ich konnte jetzt schon Tränen in ihren Augen schimmern sehen. Ich wusste auch nicht genau, was ich sagen sollte, also ergriff ich völlig zusammenhangslos das Wort: „Ich kann mich noch genau an dein einen Satz erinnern, den du am Anfang der zwölften Klasse auf ein Arbeitsblatt geschrieben hast, das ich eingesammelt habe. Ihr solltet es bearbeiten und du hast mal wieder alles andere gemacht, nur nicht das..."

Auf Juliettes Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Anscheinend konnte sie sich auch erinnern.

„Es gibt so viele Dinge die ich sagen möchte-", begann ich und Juliette stimmte mit ein. „Also fang ich damit an."

„Er ist in meinem Kopf geblieben, auch wenn ich damals nicht ganz wusste wieso."

„Anna...", seufzte Juliette und strich sich eine Strähne hinters Ohr.

„Ich weiß, wir sollten reden",sagte ich ebenfalls seufzend, „Aber ich weiß nicht, wo wir anfangen sollen..."

„Vielleicht damit, dass dir alles mit uns damals zu Beginn mehr zugesetzt hat, als du mir erzählt hast..."

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