26. Ein Geist

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Als ich am nächsten Morgen erwache, öffnet auch Raven schon kurz darauf ihre Augen. Erleichtert stelle ich fest, dass ihr Blick wieder wach und klar ist. Auch ihre Haut ist zwar immer noch bleich, doch das gräuliche ist verblasst und hat sogar einem zarten Rosa auf ihren Wangen, Platz geschaffen. Dass sie wieder richtig wach ist, weiss ich, als sie mich hektisch fragt, wo wir sind. Beruhigend erklärte ich ihr was passiert ist und wie wir gestern Abend hier angekommen sind.

Gerade sieht sie beschämt zu Boden. «Das hättest du nicht tun müssen. Ich meine, mich füttern, wie ein Kleinkind. Das...», murmelt sie unsicher, bevor ich sie unterbreche. «Hey. Sie mich an...», fordere ich sie auf und hebe ihr Kinn an, so dass sie mir in die Augen sehen muss. «Das war kein müssen, okay? Ich habe mich gerne um dich gekümmert. Ich wünschte nur ich hätte mehr, für dich tun können und es tut mir leid dich überhaupt in diese Situation gebracht zu haben...», erkläre ich ihr sanft. «Sicher?», hackt sie vorsichtig nach. «Sicher», antworte ich ihr. Ihre Wangen nehmen nun sogar einen verlegenen Rotton an. «Danke Loki...», murmelt sie. Ich lächle sie aufmunternd an und erwidere zärtlich: «Bitte, gern geschehen.»

«Hier», wechsle ich das Thema und halte ihr ein Brötchen hin. «Du musst etwas essen. Es ist nicht besonders edel, aber wir haben leider nichts anderes», erkläre ich entschuldigend. Sie lächelt mir jedoch nur dankend zu und winkt ab. Noch etwas angestrengt verwandelt sie sich und kaut zufrieden auf dem Brötchen herum. Ich beobachte sie dabei. Als sie fertig gegessen hat, sieht sie auf und blinzelt mich fragend an. «Ich bin nur froh, dass es dir wieder besser geht», teile ich ihr mit. «Dank dir», entgegnet sie, sobald sie sich wieder zurück verwandelt hat.

«Das ist ein schöner Ort», stellt sie glücklich fest, nachdem sie sich ein wenig umgesehen hat. Ich stimme ihr zu. Irgendwann fällt mir auf, dass sie immer wieder zu mir sieht und deutlich mit sich selber ringt. «Was ist los?», frage ich sie besorgt. Zögerlich antwortet sie mir: «Ich... Ich habe immer davon geträumt an so einem Ort, wie diesem hier, eine kleine Hütte zu bauen und dann... Naja... Und ich... Also, ich würde gerne hierbleiben und wollte fragen, ob du – natürlich nur, wenn du willst, ich kann sonst auch alleine und ich verstehe, wenn du nicht mehr bei mir bleiben willst... Also ich dachte bloss... Vielleicht würdest du gerne mit mir hier bleiben...» Lachend unterbreche ich sie: «Raven! Es wäre mir eine Ehre mit dir hier eine kleine Hütte zu bauen.» «W-wirklich?», fragt sie stockend. Ich lache und nicke. Erleichtert lächelt sie mich an und murmelt leise: «Danke.» Ich grinse sie nur glücklich an.

Sie hingegen, blickt sich prüfend um und deutet schliesslich auf eine Stelle am Waldrand, neben einem grossen Felsen. «Wie wäre es dort?», fragt sie mich, «Dort wäre es Windgeschützt und trotzdem kommt noch Sonne hin. «Perfekt», kommentiere ich ihren Vorschlag, ohne wirklich hinzusehen. Sie lacht. Sie sieht so glücklich aus... Automatisch beginne ich auch zu lachen und so lachen wir einige Minuten gemeinsam und geniessen einfach den Moment.

Nachdem wir uns wieder beruhigt haben, erklärt mir Raven: «Um eine Hütte zu bauen, brauchen wir aber noch Material.» Ich nicke verstehend «Ich kann uns nach New York teleportieren, wo wir diese Dinge besorgen können», schlage ich vor. Ich habe ihr verschwiegen, wie anstrengen das Teleportieren für mich ist. Kritisch betrachtet sie mich und unter ihrem stechenden Blick werde ich langsam unruhig.

«Nein», sagt sie schliesslich schlicht. Verwirrt blinzle ich sie an. «Nein?», frage ich verdutzt. Fest entschlossen antwortet sie mir: «Du wirst uns nicht teleportieren. Ich kann mir vorstellen, wie anstrengend es für dich ist uns zu teleportieren, also nein.» Ich will ihr widersprechen, doch als ich ihren Blick sehe, weiss ich, dass ich eh keine Chance gegen sie habe. Ich gebe mich geschlagen.

Zufrieden grinst sie mich an und bestimmt: «Wir laufen und suchen uns das nächste Dörfchen. Dort sehen wir dann weiter.» Ich stimme ihr zu und so marschieren wir los. Dank ihrer Wolfsnase werden wir auch den Weg zurück wieder finden und sonst kann ich uns immer noch teleportieren. Für unsere Wanderung hat sich Raven verwandelt und trabt zufrieden neben mir her.

Irgendwann halte ich erschöpft an und auch Raven bleibt stehen. Sie ist im Gegensatz zu mir und trotz der letzten Tage, noch lange nicht müde. Als Wolf kann sie weite Strecken zurücklegen und trotz der Zeit in der Zelle, kann man die stählernen Muskeln unter ihrem Fell, noch immer gut ausmachen. «Ich brauche eine kurze Pause», gestehe ich erschöpft, woraufhin sie verständnisvoll nicht.

Plötzlich stielt sich ein Grinsen auf ihre Lippen, weshalb ich sofort bestimmt den Kopf schüttle. «Was auch immer du vorhast – lass es», fordere ich sie auf, doch sie ignoriert mich einfach. Plötzlich spüre ich, wie ich langsam vom Boden abhebe. Hilfesuchend sehe ich zu Raven, die ein belustigtes Bellen von sich gibt. «Lass mich auf der Stelle runter!», befehle ich ihr. Sie schüttelt bloss den Kopf und fährt fort.

Ein Windschub erfasst mich und lässt mich nach hinten kippen. Ich schreie erschrocken auf, werde jedoch kurz bevor ich auf dem Boden aufpralle, aufgefangen. Nun gleite ich, wie auf einem Luftkissen schwebend, neben Raven her. Diese wedelt begeistert mit ihrem buschigen Schwanz und läuft wieder los.

«Mach das nie wieder», bitte ich sie, bin aber dennoch froh, nicht mehr laufen zu müssen. Gemütlich liege ich in der Luft und gleite neben ihr her.

Jetzt da ich nicht mehr laufen muss, hat Raven ihr Tempo ein wenig beschleunigt und rennt mit leichtem Schritt, durch den Wald. Ab und zu mache ich mir Sorgen in einen Baum oder etwas dergleichen zu knallen, doch sie lenkt mich geschickt daran vorbei. Als sie endlich anhält, steht die Sonne bereits hoch am Himmel. Ihre Nase zuckt und ihre Ohren lauschen in alle Richtungen. Unruhig tritt sie von einer Pfote auf die andere und leckt sich nervös die Lefzen. Etwas unsanft lässt sie mich herunter. Als ich neben sie trete, entdecke ich auch schnell die Quelle für ihre Unruhe.

Wir haben ein kleines Dörfchen erreicht. Es sind keine Leute mehr auf den Strassen, doch ich bin mir sicher, dass Raven sie hören und riechen kann. Diese verwandelt sich gerade zurück. «Hier werden wir, dass was wir brauchen, nicht finden», stelle ich niedergeschlagen fest. «Das hatte ich auch nicht erwartet», gibt sie zu meinem Erstaunen gelassen zurück und tritt aus dem schützenden Wald. Aufmerksam sieht sie sich um und deutet auf ein Schild, am Rande des kleinen Dorfes. Darauf steht dessen Name, den ich mir sofort merke, damit wir später wieder zurückfinden.

Mit abwehrender Haltung schleicht sich Raven etwas weiter ins Dörfchen hinein, während ich ihr ruhig folge. Ziemlich schnell bleibt sie stehen und geht auf eines der Autos zu, dass am Strassenrand parkiert ist. Sie hantiert kurz daran herum und öffnet schliesslich zufrieden dessen Türe. Kritisch beobachte ich das Ganze. «Worauf wartest du?», fragt sie mich und bedeutet mir einzusteigen. Dies tue ich dann auch zögerlich und beobachte noch immer kritisch, wie sie sie eine Weile, an irgendwelchen Drähten und anderen Dingen herumfummelt, bevor der Motor anspringt und sie offensichtlich stolz auf sich selbst, losfährt.

Mit hochgezogener Augenbraue frage ich sie: «Hast du jetzt gerade ernsthaft ein Auto gestohlen?» Gleichgültig zuckt sie mit den Schultern und erwidert: «Hast du das Essen im Supermarkt etwa bezahlt? Ausserdem bringen wir es ja wieder zurück.» Ertappt... Natürlich habe ich das Essen nicht bezahlt. Mit was auch?

Trotzdem lege ich noch eine Illusion über uns, so dass Raven und ich anders aussehen und auch das Auto nicht mehr silbern, sondern in einem schlichten rot ist. Das Kennzeichen habe ich ebenfalls ein wenig abgeändert. Raven, die es natürlich sofort bemerkt hat, bedankt sich leise und so fahren wir schweigend weiter.

Nach einigen Schildern, an denen wir vorbeigefahren sind, kann ich mit Sicherheit sagen, dass sie nach Cleveland in Ohio will. Es scheint eine etwas grössere Stadt zu sein, die sich auch gar nicht so weit von uns entfernt befindet. Gerade fahren wir über eine grosse Brücke und ich starre konzentriert gerade aus, da ich schon gespannt bin, wie es in Cleveland aussieht.

Plötzlich macht Raven jedoch eine Vollbremsung und ich werde in meinem Auto Gurt nach vorne geschleudert. Es gibt einen lauten Knall, als das Auto hinter uns, in uns hineinkracht und wir heftig durchgeschüttelt werden. Ich drehe mich zu Raven um und will sie wütend fragen, was das sollte, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Wie gebannt starrt sie aus dem Auto – die Augen vor Schreck geweitet und das Gesicht kreideweiss. Beinahe so als hätte sie einen Geist gesehen...

Shadow and Ice: Die Vergangenheit als Begleiter  (Loki ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt