1. Början

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Mit müden, kleinen Augen beobachte ich, wie tröpfchenweise das braune Gold in die gläserne Kanne tropft, gleich, gleich ist es so weit und ich kann endlich die erste Tasse Kaffee des Tages genießen. Die erste, der wahrscheinlich noch einige folgen werden. Mein Blick wandert zur Uhr und erschrocken zucke ich zusammen, es ist viel später als ich vermutet hatte und wenn ich nicht den Bus verpassen und mit dem Rad zur Arbeit fahren will, dann muss ich mich wirklich sputen.

„Morgen!", mit verstrubbelten Haaren und gähnend kommt Moritz in die Küche, ohne auf meinen Protest zu achten, zieht er die Kaffeekanne unter dem Filter hervor und gießt sich einen großen Becher ein.

„Hey, das war meiner!", protestiere ich und sehe entsetzt zu, wie mein Kaffee in Moritz verschwindet.

„Sorry, aber sonst überstehe ich den Frühdienst heute nicht.", murmelt er und wirft mir dieses unwiderstehliche Lächeln zu, dass alle Mädchen in seinem Umkreis zum Dahinschmelzen bringt.

„Lass das! Dein Rockstargrinsen zieht bei mir nicht.", brumme ich und schütte den kläglichen Rest des braunen Goldes in meinen Thermobecher.

„Nicht?" Moritz setzt einen Schmollmund auf, macht einen Schritt auf mich zu, legt seine Hand an meine Hüfte und schiebt sein Becken nach vorne. „Und das?" Er macht rhythmische Bewegungen, die mich dazu bringen laut loszuprusten.

„Sorry Moritz, leider habe ich heute kein Foto für dich.", sage ich leichthin, bringe aber doch einige Zentimeter Luft zwischen uns, er muss ja nicht merken, dass mein Körper mehr auf ihn reagiert, als mir lieb ist. „Wenn wir nicht zu spät kommen wollen, sollten wir jetzt los, der Bus ist eh schon weg.", murmele ich und greife mir meinen Rucksack.

„Sanna?"

„Ja?" Ich fange den Apfel auf, den er mir zuwirft und beiße direkt hinein. „Beim nächsten Mal gerne eine Zimtschnecke." Ich schlüpfe in meine Chucks, greife nach meinem Fahrradhelm und haste die ausgetreten Stufen nach unten, bis in den Fahrradkeller, den Bus bekomme ich jetzt wirklich nicht mehr.

Um diese Uhrzeit sind die Straßen Hamburgs noch verhältnismäßig leer, während im Osten die Sonne aufgeht, erwacht die Stadt nur langsam zum Leben. Ich trete in die Pedale und schnaufe leise, wahrscheinlich sollte ich öfter das Rad und seltener den Bus nehmen, aber morgens um fünf bin ich froh, wenn ich einigermaßen heile geradeaus laufen kann.

„Hallo schöne Frau, darf ich mich ihnen anschließen?" Mühelos hat Moritz mich eingeholt und radelt nun neben mir her, ihn scheint das Ganze überhaupt nicht anzustrengen.

Moritz, mein bester Freund, mein Seelenverwandter und meine ganz persönliche Nemesis. Seitdem wir beide am ersten Schultag in der weiterführenden Schule recht verloren auf dem Schulhof standen gibt es uns nur noch im Doppelpack. Er, der quirlige Sunnyboy, ich die schüchterne Neue mit dem komischen Akzent. Seit unserer Pubertät wird uns unterstellt, dass wir ein Paar seien, eine Freundschaft zwischen Mann und Frau, für unser Umfeld unvorstellbar. Und doch war es Moritz, dem ich damals von Alex vorgeschwärmt habe, der sich geduldig alles angehört hat, der meine Tränen getrocknet hat, als ich den ersten Korb meines Lebens bekommen habe. Und ich habe ihm Tipps gegeben, wie er Klara erobern kann, habe dabei zugesehen, wie er im Zeltlager am Lagerfeuer erst ihre Hand gehalten und dann ihre Lippen mir seinen berührt hat. Ich habe unzählige Nachmittage mit ihm im Bandkeller verbracht, dabei zugesehen, wie aus dem kleinen Jungen mit den blonden Locken und den blauesten Augen, die ich jemals gesehen habe, ein junger Mann wurde. Ich war immer sein Fangirl Nummer eins, bei jedem Konzert in der ersten Reihe. Mittlerweile sind wir Mitte dreißig, haben gemeinsam die Ausbildung zum Gesundheitspfleger absolviert, teilen uns eine Wohnung und den Arbeitsplatz und manchmal das Bett. Aber das ist unser kleines Geheimnis.

PetrichorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt