Teil 19 Öidyll

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Paddy

Mit tief in die Stirn gezogener Kappe rutsche ich im unbequemen Sitz der Regionalbahn noch weiter hinunter, nicht nur dass es für mich eigentlich noch viel zu früh ist, auch die lärmenden Schüler um uns herum machen mich nervös.

„Wir sind gleich da... Also... Wir müssen gleich umsteigen."

Innerlich stöhne ich auf, nicht dass wir schon gefühlt hundert Mal die Bahn gewechselt haben, mit allem was dazu gehört, spontaner Gleiswechsel, Umsteigezeiten von unter zwei Minuten und vollkommen überfüllte Abteile. „Wie oft denn noch?", murre ich und greife nach meinem Koffer, der für die engen Gänge hier eigentlich viel zu sperrig ist.

„Wir müssen nur noch auf die Fähre und dann sind wir da." In Sannas Stimme klingt eine Leichtigkeit mit, die ich um diese Uhrzeit mehr als erstaunlich finde, aber durch ihren Schichtdienst ist sie es gewohnt zu nachtschlafender Zeit fit zu sein.

„Fähre? Verrätst du mir, wohin du mich entführst?"

„Nun, offiziell bleiben wir in Hamburg, Neuwerk gehört zu Hamburg, auch wenn wir eine halbe Weltreise machen müssen."

„Neuwerk? Nie gehört, ist das eine Insel?"

Sanna nickt, während sie sich den Weg durch die Schülergruppen nach draußen bahnt. „Genau, eine kleine Insel an der Elbmündung. Meine Eltern haben dort den Hof meiner Großeltern übernommen und beherbergen nun von April bis Oktober Übernachtungsgäste und bewirten Tagesgäste. In den Wintermonaten leben sie in ihrer Stadtwohnung in Hamburg."

Sofort werde ich hellhörig, ein Hotel auf einer Insel? Nicht die Möglichkeit wegzukommen oder sich zu verstecken? Wenn ich erkannt werde, sitze ich dort fest, feine Schweißperlen treten auf meine Stirn und alles in mir schreit nach Flucht. Sanna scheint mein Unbehagen zu spüren, denn sie stoppt und mustert mich kritisch.

„Was ist los? Wirst du seekrank? Wir können auch die Kutsche nehmen."

Ich runzele die Stirn, Kutsche? Zu einer Insel? Will sie mich auf den Arm nehmen?

„Bei Ebbe fahren Kutschen zur Insel hinüber, Neuwerk ist generell autofrei, also nicht, dass es sich überhaupt lohnen würde, dort ein Auto zu besitzen, dafür sind die Wege zu kurz. Und keine Sorge, die Touristenströme die länger dort bleiben sind überschaubar und ich glaube nicht, dass deine Zielgruppe auch der Zielgruppe der Urlauber dort entspricht. Das sind meistens rüstige Rentner, die es nicht stört, mal eine zeitlang ohne Internet und Handyempfang zu sein."

Mein Gesicht scheint Bände zu sprechen, denn lachend hakt Sanna sich bei mir unter. „Keine Sorge, meine Eltern haben WLAN und wenn du lieb bist, dann bekommst du von mir die Zugangsdaten."

„Danke, auch wenn ich Urlaub habe, so kann ich nicht einfach komplett von der Bildfläche verschwinden, zumindest nicht ohne Ankündigung und so kurz vor der Tour."

Schon während wir mit dem Schiff in Richtung offenes Meer ansteuern, merke ich, wie die Entspannung durch meinen Körper fließt, tief atme ich die salzige Luft ein, mit geschlossenen Augen stehe ich an der Reling. Außer dem Motor des Schiffes und dem Kreischen der Möwen ist nicht viel zu hören, eine Ruhe, die ich in den letzten Wochen vergebens gesucht habe. „Danke, dass du mich mitnimmst.", murmele ich in Sannas Richtung und lege meinen Arm locker um ihre Hüfte.

Vom Anleger aus ist es nur ein kurzer Fußweg bis zum Hof von Sannas Eltern, die Insel ist wirklich nicht groß. Das mit Reet gedeckte Haus sieht man schon von weitem, ein großer, schwarzer Hund kommt Sanna entgegengesprungen, umkreist sie schwanzwedelnd und fordert eine gehörige Portion Streicheleinheiten ein. „Darf ich vorstellen, das ist Ole!"

Ich beuge mich hinunter, strecke ihm meine Hand hin, die argwöhnisch beschnüffelt wird, dann wirft der Riese sich vor meine Füße und erwartet eine ausgiebige Begrüßung. „Hallo Ole, du bist ja ein schöner!", murmele ich. Als nächstes kommt eine zierliche Frau mit grauem Pagenschnitt auf uns zu, anscheinend Sannas Mutter.

PetrichorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt