Stark sein

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Als ich das nächste Mal die Augen öffne, hat sich meine Position nicht geändert, nur Florian ist nicht mehr da.

Vorsichtig lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen und sehe das meine Zimmertüre sperrangelweit offen steht.
Irgendwann dringen auch leise gedämpfte Stimmen an mein Ohr.
"....und dann stand sie unter der Dusche und hat sich ihren halben Körper mit ihren Fingernägeln zerkratzt." Florians seufzen ist nicht zu überhören.
"Wir müssen mit ihr reden, vielleicht kennt sie den Täter. Oh man, das tut mir leid Flo. Du kannst dich jederzeit melden wenn ihr Hilfe braucht!" ich glaube dass das Tom ist.
"Ich hab jetzt erst Mal frei um bei ihr sein zu können und dann sehen wir die Tage, wie es ihr psychisch geht. Ich hätte sie einfach intensiver suchen sollen! Ich bin so ein verdammter Idiot!" Florian macht sich die größten Vorwürfe, wobei er der letzte ist, der etwas dafür kann.
"Hör auf dir Vorwürfe zu machen! Weder Du noch Lina könnt etwas dafür! Was mich allerdings total stutzig macht, ist ihre sogenannte Freundin Jessy. Sie schien absolut nicht besorgt, als wir bei ihr waren und sie war nicht einmal hier um nachzufragen..." Toms Vorwürfe werden von Florian bestätigt:
"Das finde ich auch sehr komisch. Lina ist in jeden Ferien bei ihr gewesen und sie haben so viel Zeit miteinander verbracht...und jetzt interessiert es Jessy nicht, was mit Lina ist. Da ist doch was Faul!"
Ein paar weitere Stimmen bestätigen diese Erkenntniss und ich nehme mir vor den rest des Tages im Bett zu verbringen, da ich keine Lust auf Menschen habe.
"Ich muss wohl heute mittag erst mal unsere Eltern informieren. Die flippen aus!"

Oooooh nein!
Darauf habe ich keine Lust.
Die haben mich weggeschickt!
Die werden erst Flo die Schuld in die Schuhe schieben, weil er nicht aufgepasst hat und danach werden sie mir aufs Brot schmieren, das ich selbst Schuld bin.
Bin ich ja auch!
Lina du musst dich zusammenreißen und zumindest nach außen hin so tun, als wenn du das alles locker wegstecken kannst! Wenn das alles raus kommt.... Du bist unten durch!
Bei jedem! Reiß.dich.zusammen!

Trotz meinem schlimm schmerzenden Körper, quäle ich mich aus dem Bett und muss erst mal checken was ich anhabe.
Ein Tshirt von Flo und eine Jogginghose von ihm.

Einmal tief durchatmen und dann lächeln Lina.
Du kannst später heulen, wenn keiner hinsieht!

Eigentlich sträubt sich alles in mir und ich würde mich am liebsten unter mein Bett verkriechen und den ganzen Tag heulen.
Ich bereite mich vor, als müsste ich in einen Ring steigen und den schwersten Boxkampf meines Lebens hinter mich bringen.
Mein aufgesetztes Lächeln fühlt sich mehr als falsch an, trotzdem zwinge ich mich dazu und versuche so normal wie möglich aus meinem Zimmer ins Bad zu laufen.
Im Flur werfe ich den kurz erschrockenen Männern ein "Morgen!" zu und und rette mich hinter die Badezimmertüre.
Die wurde wohl gestern schwer Misshandelt, da sie sich nicht mehr schließen lässt.
Das Schloß ist mehr als kaputt und der Türrahmen hat auch schon bessere Zeiten gesehen.
Seufzend hänge ich mich über das Waschbecken und schmeiß mir erst mal eine Runde kaltes Wasser ins Gesicht.
Danach putze ich mir die Zähne und starre mich dabei unentwegt im Spiegel an.
Von der Hälfte meines Halses, bis unter den Rand des Tshirts, sieht man blutrote tiefe Kratzer.
Ich will erst gar nicht wissen wie der Rest von meinem Körper aussieht!
Unschlüssig stehe ich inmitten des Badezimmers und sträube mich, mich jetzt zu den ganzen Menschen da draußen dazu zu gesellen.
Allerdings wird mir nichts anderes übrig bleiben.
Spätestens in 10 Minuten kommt bestimmt Florian um mich zu holen.

Irgendwann platzen bestimmt noch meine Lunge, wenn ich weiterhin so viel und so tief Luft in mich einsauge.
Mit der ersten Welle Mut die mich überkommt, laufe ich los in die Küche und stoppe direkt vor der Kaffeemaschine.
Am liebsten würde ich hineinkriechen und mich dort verstecken.
Ich bin mehr mit meinen Gedanken beschäftigt, als das ich merken würde das Florian plötzlich neben mir steht und eine Hand auf meinen Rücken legt.
Kurzzeitig zucke ich zusammen, ermahne mich dann aber wieder selbst, stark zu sein!
"Wie geht's dir Lina?"
"Ganz okay, denke ich!" mit einem dezentem Lächeln und einem kurzen nicken unterstreichen ich meine Aussage, die Florian aber keineswegs überzeugt.
"Hmmm. Setz dich doch zu uns dazu und iss erst mal was!"
"Sitzen ist gerade nicht so meine Stärke und Hunger hab ich momentan auch nicht! Wenns dich nicht stört, stehe ich hier einfach mit meiner Kaffeetasse rum!" ich ziehe die volle Kaffeetasse unter der Maschine weg und umklammert sie mit beiden Händen.
Der Schmerz der Hitze zieht sich höllisch durch meine Handflächen, lenkt mich aber erfolgreich von allem anderen ab.
Ich drehe mich dem Esstisch zu und analysiere die Anwesenden.
Tom, Phil, Franco und den anderen Typ kenne ich nicht.
Alle starren mich mit bedrückten Gesichtern an und wissen wohl nicht was sie sagen sollen.
"Jetzt guckt mich nicht so an, wie ein Ausstellungsstück. Ich lebe und werde es überleben. Macht nicht so ein Drama draus! Und du, Bruderherz, sagst keinen Ton zu unseren Eltern! Sonst bringe ich dich eigenhändig um!" mein stechender Blick trifft auf eine gerunzelte Stirn.
"Lina, das kann ich nicht verschweigen! Was meinst du was los ist, wenn die das rausbekommen...."
"Hör mal: ich bin 18 und du bist nicht verpflichtet es ihnen zu sagen und ich will das auch nicht! Das geht niemanden etwas an! Naja, bis auf die Herde die da wohl am Tisch sitzt. Das kann man schlecht ändern. Das wird schon wieder!" siegessicher will ich mich eigentlich wieder aus dem Staub machen, aber die Herrschaften am Esstisch erwachen leider wieder aus ihrer Starre.
"Ne, Lina. Das kann man nicht totschweigen! Der Täter darf nicht ungestraft davonkommen! Wir müssen darüber reden! Wenn du nicht mit uns darüber reden willst, dann wenigstens mit unseren Kollegen!"

Ja Tom, vielleicht sollte ich mit deinem Bruder darüber reden!

"Ich weis nicht wer das war, wohin er gegangen ist und warum überhaupt so etwas passieren musste!" meine Hände fangen an, verräterisch zu zittern und ich mach dann doch noch schnell die Biege, bevor die alle wieder auf mich einreden und ich schwach werde.

Ich lege mich mit dem Bauch vorraus aufs Bett und versuche die wieder stärker werdenden Schmerzen tapfer wegzuatmen.

Wie konnte ich nur so saudumm sein und mich auf sowas einlassen?
Florian wird mir das nie verzeihen!
ICH werde mir das nie verzeihen!

Meine Arme schlingen sich über meinen Kopf und ich drücke so fest wie möglich zu, um die Gedanken aus meinem Kopf heraus zu pressen.
Meine Fingernägel bohren sich in meine Arme um sicherzustellen, das meine Gedanken nicht wieder abschweifen.
Am liebsten würde ich schreien!
So laut und erbarmungslos wie nur möglich.
Allerdings laufen mir nur stumme Tränen über mein Gesicht, die keinster Weise Erleichterung bieten.
Ich bin so in meinen inneren Kampf vertieft, das ich nicht merke, das Jemand in mein Zimmer gekommen ist.
Erst als versucht wird meine Arme etwas zu lockern zucke ich zusammen und flüchte mich schnell an die Wand.
"Keine Panik. Ich bins Lina! Phil!" als mir seine Worte bewusst werden, könnte ich mir glatt selbst eine Scheuern.

Wie war das doch gleich mit der Stärke zeigen?
Richtig bewundernswert wie du deine Vorhaben durchziehen kannst, du dämliche Kuh.

Mit einem verzerrten Lächeln begrüße ich Phil und versuche mich etwas entspannter hinzulegen.
"Zeig mir bitte deine Arme!"
Verwundert strecke ich meine Arme zu ihm und bemerke erst jetzt, das meine Fingernägel saubere Arbeit geleistet haben und meine Haut einige Löcher mehr zieren.
"ALEX! BRINGST DU MIR MAL BITTE KURZ DESINFEKTIONSMITTEL UND ZWEI VERBÄNDE?"
Man hört wie sich zwei Stühle nach hinten schieben und Alex zu Flo sagt, das er sitzen bleiben soll.
Während Phils Blick nonstopp auf mir ruht, überlege ich mir wie ich die noch kommenden Fragen beantworten soll.
"Hier Phil. Was ist denn los?" Alex betritt mein Zimmer und zieht scharf die Luft ein als er die Ergebnisse meiner Gedankenverdrängung sieht.
Phil versorgt Fachmännisch meine Arme und kontrolliert nebenher noch meine Verbrühung:
"Die Kompresse am Bauch können wir jetzt weglassen! Sieht schon recht gut aus. Du hörst aber jetzt bitte auf dir irgendwelchen Schaden zuzufügen. Hast du verstanden? Das bringt nichts. Du solltest lieber darüber reden!"
"Was soll ich denn noch erzählen? Soll ich euch Einzelheiten nennen, wie er sich in mich reingerammt hat oder was wollt ihr hören?" kurz muss ich heftig Schlucken um mich danach kurz zu räuspern:
"Sorry. War nicht beabsichtigt dich so anzufahren..."

Super, jetzt fühle ich mich noch schlechter als eh schon..

"Schon in Ordnung. Hör mal, du musst da nicht alleine durch. Wir sind alle da um dir zu helfen und um dir beizustehen. Wir können uns vorstellen das es in dir drin schrecklich aussieht und du innerlich kaputt gegangen bist, aber du darfst die Angst nicht von dir Besitz ergreifen lassen. Rede darüber!"
Ich nicke ihm nur zu, da ich nicht weiß was ich sagen soll.
Meine Gefühle kämpfen gegeneinander.

Reden oder Schweigen?
Verachtung oder Akzeptanz?
Glauben oder nicht glauben....

"Die Polizei braucht noch eine Aussage von dir. Du kannst selbst entscheiden ob du mit Tom sprechen möchtest oder mit seinem Kollegen Moritz, der dich nicht kennt. Es kann auch jemand als Unterstützung dabei sein, wenn es dir hilft. Überleg es dir in Ruhe, wir lassen dir jetzt ein wenig Zeit" Phil erhebt sich und verlässt mit Alex zusammen den Raum.

Wrong Way (ASDS)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt