Kapitel 1

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Es war Herbst. Seit den Sommerferien waren nun schon fast drei Monate vergangen. Wie jedes Schuljahr aufs neue quälten wir uns durch den Unterricht und vor allem in diesem Betonklotz, der sich unsere Schule nannte. Die Hölle auf Erden, das Gymnasium. Eine übertriebene Darstellung einer nicht ganz so schlimmen Ausgangssituation. Nur waren meine Noten zu dieser Zeit nicht besonders erfreulich gewesen. Zwischen einer eins und einer fünf war, je nach Fach, alles dabei. Ein Tipp meines besten Freundes Lasse: "Wie wäre es, wenn du statt in einem Fach richtig gut zu sein und einem mega schlecht, einfach versuchst überall 'ne stabile drei zu schreiben?". Leichter gesagt als getan. Er schrieb auch nicht die besten Noten, nichtsdestotrotz war er mein Lieblingsidiot. Immerhin kannten wir uns schon fast ein Jahrzehnt, lang genug für uns um als Geschwister durchzugehen. Wir wussten alles über den jeweils anderen. Und irgendwie sahen wir uns sogar ähnlich. Wir hatte beide dunkles Haar, nur war meins einen Tonbräunlicher und leicht gewellt, während seines schwarz und voller Locken war. Er hatte grüne Augen, die von schwarzen Wimpern umrandet waren und die Intensität eines Sommertages hatten. Meine hingegen waren so dunkel, das sie schon schwarz schienen. Mit meinen 1,56Metern konnte ich nicht an seine 1,80 Meter herankommen. Seine leichtmollige Statur ließ ihn deshalb noch ein gutes Stück größer wirken, neben meinem zierlichen Körper. Ich kam früher als die anderen in die Pubertät und deshalb war mein Körper schon im frühen Alter „weiblicher" als der, der anderen Mädchen. Fluch und Segenzugleich. Kommentare bezüglich meines Aussehens versuchte ich stets mit Witzen herunterzuspielen, genau wie die Jungs um mich herum. Schwarzer Humor war fester Teil unseres Freundeskreises. Mit ihnen nahm ich kein Blatt vor den Mund, doch sobald ich alleine war, überrollte mich stets die Schüchternheit. Mit meinen Freunden konnte ich über alles reden – Jungs, Klamotten, Probleme. Einfach alles. Nur eines traute ich mich nie zu erzählen und hatte es auch nie vor zu tun. Mein Verlangen nach ihm. Morgens war er mein erster Gedanke, tagsüber mein einziger, abends mein letzter und nachts träumte ich von ihm. Er ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich dachte ich hätte ihn nach all den Jahren vergessen oder zumindest meine Gefühle für ihn. Was er damals schon in der kleinen Everly erweckte war nicht von dieser Welt. Es war zu früh, ich war zu jung gewesen und er hatte nicht einmal etwas getan. Er machte nur seine Job und schenkte mir nicht einmal großartig Aufmerksamkeit. Dennoch reagierte mein Körper auf ihn, bevor mein Gehirn es überhaupt verstand und wusste was da passierte. Nach all  den Jahren in denen ich älter und erfahrener wurde stand er nunwieder vor mir. Mit dem selben schiefen Lächeln und den selben bernsteinfarbenen Augen. Marc Dumond. Mein Lehrer.

Mit ihm begann jede meiner Wochen. Morgens um halb acht. Für Lasse „Suizidstimmung", denn er bekam nicht viel Schlaf, was ihm sein nächtliche zocken an der Playstation verschuldete. Herr Dumond machte meine Montagmorgende jedoch mehr als erträglich. In dem Klassenzimmer in dem es nur zwei Reihen gab, welche U-förmig gegenüber dem Smartboard angelegt waren, beobachtete ich ihn aus der letzten Reihe. Ich saß in der Mitte mit direktem Blick auf das Lehrerpult. Allerdings ging es weniger um den Tisch, als um das, was davor stand. Er, wie er entspannt an das Pult gelehnt stand. So nah und doch so fern. Unerreichbar und doch direkt vor einem, in fast greifbarer Nähe. Herr Dumond. Ein Seufzer entfuhr meinen Lippen, während ich ihn verträumt ansah. Ein Bild von einem Mann. Zumindest für mich, denn Geschmäcker waren unterschiedlich und ich hatte bisher noch von niemandem gehört, dass er attraktiv sei. Nicht das ich es in die Welt hinausposaunen würde. Aber das ein oder andere hätte ich bestimmt mitbekommen. In einer Klasse von 24 Schülern von denen nur sieben Mädchen waren, teilten die anderen nicht meine Meinung. Es reichte nicht nur ihn gut zu finden, nein, er unterrichtete auch noch mein Lieblingsfach – Englisch. Die Liebe zu Englisch war allerdings nicht sein Verdienst, schon seit der Grundschule war ich in die Sprache verliebt gewesen. Deshalb verwechselte ich meine neu gewonnene Sympathie zunächst mit dem Fach und die Art wie toll er es unterrichtete. Schnell war klar, dass ich es mochte ihn anzusehen, zuzusehen wie er vorne stand und redete. Es löste Gefühle in mir aus, welche ich nicht beschreiben konnte. Kein Wortschien es nah genug zu treffen. Doch faszinierend, begeisternd, interessiert und aufmerksam trafen es ganz gut. In meinem, aus Jungs bestehenden, Freundeskreis mochte ihn keiner besonders. Mein Vater konnte ihn auch nicht besonders leiden, das meinte er zumindest nach dem letzten Elternabend. Vielleicht war ich ja diejenige mit der etwas nicht stimmte und die anderen warennormal. Doch ich konnte einfach nicht anders. Er hatte dieses gewisse etwas, eine Ausstrahlung, die ich nicht beschreiben konnte. Männlichkeit war das falsche Wort, obwohl er sehr männlich war. Er war reif. Eine Reife die den Jungs in meinem Alter noch fehlte. Er war autoritär. Immerhin war er als Lehrer verantwortlich für uns. Ich glaubte diese Autorität war, was mich lockte und förmlich magisch anzog. Weil es verboten war, weil es nicht sein durfte. Er war verdammt anziehend. Seine Ausstrahlung, ein wenig Stränge, er hatte die Kontrolle. Ich wollte dass er die Kontrolle hatte. Am meisten liebte ich sein Lächeln. Dieses Halblächeln, das gab ihm etwas jungenhaftes wenn gleichzeitig seine Augen funkelten.


Vorlauter Beschmachten verging die Zeit mit ihm immer viel zu schnell und deshalb versuchte ich immer die Zeit herauszuzögern indem ich meine Sachen langsam zusammenpackte. Ich fragte mich ob es Lehrern auffiel wenn man immer als letztes das Zimmer verließ, in der Hoffnung auf ein Gespräch oder um noch einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen. Meistens wartete Lasse auf mich, damit wir zusammen zum nächsten Klassenzimmer laufen konnten. Ich war noch nie jemand gewesen, der viel redete. Diesmal nahm ich meinen Mut zusammen und lächelte ihn an, als ich an seinem Pult vorbeilief: "Tschüss". Herr Dumond schaute auf und unsere Augen trafen sich, er lächelte zurück und verabschiedete sich. Meist schaffte ich in seinem Unterricht voll konzentriert dabei zu sein und Leistung zu bringen, doch danach war Schluss mit Konzentration. So auch an diesem Tag, an dem ich nur noch an ihn denken konnte.

Verlangen nach ihmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt