Kapitel 1

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Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Kalter Schweiß und eine Gänsehaut breiten sich über meinem Körper aus. Harry sitzt unverändert neben mir.

Ich habe ihm gerade meine Lebensgeschichte erzählt und er reagiert nicht?!

Interessiert es ihn nicht?

Ist er eingeschlafen?

Vorsichtig lehne ich mich etwas nach vorn und betrachte sein Gesicht. Er hat tatsächlich die Augen geschlossen.

"Harry?", frage ich leise. - "Hm?"

Erleichtert atme ich aus. Er ist also noch wach. "Ich ähm.. soll ich dich allein lassen?" Er scheint kurz zu überlegen, dann nickt er, ohne seine Augen zu öffnen. "Oh.. okay." Unsicher schwebt meine Hand über seiner. Zu gern würde ich unsere Finger verschränken, doch ich traue mich nicht. Also stehe ich stattdessen auf und lasse ihn allein.
Mein Weg führt mich zum See. Gedankenverloren ziehe ich meine Schuhe aus, kremple meine Hosenbeine übers Knie und hänge meine Füße in das kalte Wasser. "So ein Mist", murmle ich niedergeschlagen. Harry sah so unglaublich enttäuscht von mir aus. Wobei das auch verständlich ist, immerhin habe ich ihn von Beginn an angelogen. Damals, als ich ihm erzählte, wie ich überhaupt zu Alec gekommen bin, hatte ich zwar betont, dass ich ihm den Rest zu einem anderen Zeitpunkt erklären würde. Dennoch rechnete er vermutlich nicht mit so einem Mist. Und dass ich ihn einen Monat ignoriert habe, spricht auch nicht gerade für mich, ebenso wenig dass ich ihm das Testergebnis verschwiegen habe.

Vorsichtig hole ich den Zettel aus meiner Hosentasche. Das Papier ist schon komplett zerknittert.

Meine Augen fliegen über die Worte darauf, auch wenn ich schon auswendig weiß, was dort steht.

Ich kann schwanger werden. Niemals hätte ich damit gerechnet. Damals schluckte ich so viele Kräuter, die normalerweise sowohl für einen Schwangerschaftsabbruch als auch für Unfruchtbarkeit sorgen. Für eines davon funktionierte es ja auch, weshalb ich das Andere nicht ausschloss. Für mich stand fest, dass ich niemals wieder dieses Gefühl verspüren würde, dass in mir ein Lebewesen heranwächst. Es war so unglaublich schön. Ich wäre bereit gewesen, die Kleinen mit meinem Leben zu beschützen, doch letztendlich konnte ich es nicht. Sie starben, weil ich mich nicht gegen Alec wehren konnte. Er war zu stark und ich zu schwach.

Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn man weiß, dass man seine eigenen Kinder umgebracht hat. Es ist eine Sache, die ich nie vergessen werde und die immer auf meinen Schultern lasten wird. Aber das ist okay. Ich will es auch gar nicht vergessen, sonst würde ich die drei auch vergessen. Jedoch würde ich zu gern zum Grab von ihnen gehen. Ich würde mich entschuldigen. Ich würde ihnen sagen, wie sehr ich sie geliebt hatte. Doch es geht nicht. Die Stelle, an der ich sie begraben hatte, liegt in Alecs Revier und es ist verboten, mich dort aufzuhalten. Ich hätte damals noch weiter laufen sollen, dann hätte ich mir eine Stelle außerhalb des Reviers suchen können. Aber die Schmerzen ließen es einfach nicht zu, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.

Und nun sitze ich hier und bin wieder mal allein. Mein Herz schmerzt. Es fühlt sich an wie damals, wenn Alec mich wieder allein gelassen hat und weit weg war. Dann war der Trennungsschmerz so groß, dass es sich anfühlte, als würde man mir das Herz aus der Brust reißen. Immer wenn ich ihn darum bat, bei mir zu bleiben, mir die Schmerzen zu ersparen, dann lachte er nur und ging. Die Tür meines Zimmers schloss er ab, damit ich ihm nicht nachlaufen konnte.
Diese Schmerzen machen sich gerade wieder leicht bemerkbar, doch noch nicht so schlimm, dafür ist die Entfernung nicht groß genug.

Gerade als ich diesen Gedanken weiterführen wollte, knacken plötzlich ein paar Äste hinter mir. Schnell drehe ich mich um und sehe, wie Harry auf mich zustolpert. "Louis!", ruft er erleichtert und lässt sich neben mir auf die Wiese fallen. Seine Augen sehen ein wenig verheult aus, doch jetzt gerade strahlen sie nur Liebe aus. Sofort ist dieses Stechen in meinem Herzen verschwunden und mir wird warm. Ohne ein weiteres Wort hält Harry mich bei sich und verbindet unsere Lippen miteinander. Augenblicklich erwidere ich den Kuss sehnsüchtig und keuche leise auf, als er seine Zunge in meinen Mund gleiten lässt. Der Alpha hebt mich ein kleines Stück hoch, um meine Beine aus dem Wasser zu heben und lässt mich neben dem Ufer wieder runter. Er löst den Kuss für einen Moment und sieht mir tief in die Augen. "Ich lasse dich nicht allein, Lou. Ich liebe dich."

Little white truths - L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt