Little white truths - L.S.

Kapitel 37

Schwer atmend steht Harry wenige Sekunden darauf in seiner Menschenform vor mir und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an.

"Harry?", frage ich, um endlich Gewissheit zu haben. Er blinzelt kurz, als wäre er wie in Trance gewesen, ehe er tatsächlich nickt. "Ich... ich weiß auch nicht... es kam plötzlich über mich, ich konnte nicht anders, als dir das aus der Hand zu reißen", erklärt er, offensichtlich entsetzt von sich selbst. "Ich würde das Baby nie töten", hauche ich und lege beschützend die Hand auf meinen Bauch. - "Ich weiß, es.. es tut mir so leid, ich-"

Plötzlich kommt mir ein Gedanke, weshalb ich Harry mit einer Handbewegung zum Schweigen bringe. "Haz, du.. du meintest, diese Reaktion sei einfach so über dich gekommen... meinst du... also könnte es sein, dass..." Ich stocke und möchte es gar nicht aussprechen, zu sehr habe ich Angst vor seiner Antwort. "Was meinst du, Lou?", fragt er vorsichtig, geht vor mir in die Hocke und legt seine Hand auf meine. Ich horche kurz in mich, doch nicht eine Sekunde spüre ich Unbehagen. "Also... wenn du das nicht beeinflussen konntest... wäre es möglich, dass das bedeutet, dass..." Erneut breche ich ab, doch Harry scheint verstanden zu haben, worum es geht.

"Dass ich der Vater des Babys bin?", hakt er leise nach, woraufhin ich sachte nicke. Mit großen Augen beobachte ich jede kleinste Reaktion seinerseits, doch leider kommt nicht viel. "Ich weiß es ehrlich nicht. Es wäre natürlich möglich, dass mein Körper meinen Sohn oder meine Tochter schützen will und ich dadurch nicht mehr klar denken konnte, aber genauso weiß ich, dass es dir selbst auch geschadet hätte, wenn du die Kräuter gegessen hättest. Ich weiß nicht, ob du das Ganze noch einmal überstehen würdest..." - "Das Ganze?", frage ich unsicher.

"Eine Totgeburt, Lou."

"Das... das glaube ich auch nicht... allein der Gedanke daran..." Ich schüttle mich ein wenig und presse meine Hand fester gegen meinen Bauch. "Soweit wird es nicht kommen, hörst du? Dem Baby geht uns gut, dir geht es gut und.. mir geht es auch sehr sehr gut. Wir schaffen das", versichert er und streicht mir liebevoll über die Wange. "Danke, dass du das sagst", hauche ich und küsse ihn. Er erwidert sofort und seufzt leise in den Kuss. Mein Herz klopft einige Takte schneller, doch ich bin mir sicher, dass dies von Harry ausgeht. "Ich liebe dich, Louis und ich werde immer für dich da sein, das verspreche ich dir." - "Ich liebe dich auch. Mehr als alles Andere.. außer das Baby, das liebe ich genauso sehr wie dich." Harry nickt und lächelt glücklich. "So sollte es sein."

"Wollen wir uns dann wieder auf den Weg machen?", fragt er und deutet nach draußen. Ich nicke kurz, sehe mich noch einmal um und folge ihm dann. Wenige Augenblicke später trotten wir wieder als Wölfe nebeneinander her, wobei diesmal ich den Korb zwischen den Zähnen trage. Immerhin hat Harry mich schon den halben Weg hierher geschleppt. Plus Korb.

Wie hast du das damals eigentlich geschafft? Wir sind nun schon ein ganzes Stück von der Höhle entfernt und du hattest doch erst die Geburt hinter dir, oder?

Ich blieb noch einige Stunden liegen um mich zu erholen, aber dann bin ich losgelaufen. Die Welpen habe ich immer einzeln einige Meter vorausgetragen, dann den nächsten hinterher und so weiter.

Du wolltest keinen von ihnen allein lassen, oder?

Eine Antwort braucht es nicht. Niemals hätte ich einen meiner Welpen so lange allein zurück gelassen, damit wilde Tiere kommen und ihn mitnehmen. Auch wenn die Kleinen schon tot waren, wollte ich auf keinen Fall, dass sie woanders landen als in dem selbstgebuddelten Grab. Sie sollten beieinander sein.

Wir sind da.

Ich stelle den Korb vorsichtig ab und gehe mit leicht geduckter Haltung auf die Lichtung. Es sieht alles aus wie damals. Die Sonne scheint zwischen den Bäumen auf mich herunter, die Vögel zwitschern lauter als zuvor und der Wind rauscht durch die Baumwipfel. Bunte Blumen blühen soweit das Auge reicht, trotz dass der Winter noch nicht sein Ende gefunden hat. Automatisch fühle ich mich ruhiger und ziehe den Duft tief in meine Lunge.