Kapitel 10

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"Harry?", murmle ich. Wie jeden Morgen taste ich blind nach dem Lockenkopf, doch meine Hand bekommt nur eine leere Matratze zu spüren. Verwirrt öffne ich meine Augen langsam und stelle fest, dass Harry tatsächlich nicht hier ist. Seine Bettdecke ist nicht mehr hier, lediglich sein Kissen liegt zusammengeknüllt neben mir. Ich strecke mich ein wenig, ehe ich schwerfällig die Beine aus dem Bett schwinge und aufstehe.

Von einer Sekunde auf die andere entsteht jedoch plötzlich ein stechender Schmerz in meiner Brust. Keuchend sacke ich zusammen und presse meine Hände fest auf die Stelle, worunter mein Herz liegt. "Scheiße", fluche ich. Tränen schießen in meine Augen. "Harry!", rufe ich laut, obwohl mir bereits klar ist, dass ich keine Antwort erhalten werde. Es ist der Trennungsschmerz, den ich spüre. Doch so schlimm wie jetzt gerade war es noch nie. Das Stechen und Brennen breitet sich über meinen gesamten Körper aus, als würden tausend Nadelstiche meine Haut benetzen.
Vollkommen benebelt höre ich, wie die Haustür klappert.

"Louis?" Statt einer Antwort bekomme ich nur ein leises Wimmern hervor. Tatsächlich scheint er mich gehört zu haben. Schritte erklimmen die Treppe, kurz darauf erscheint mein bester Freund im Türrahmen. "Lou! Scheiße, was ist los?!" Ich deute auf meine Brust und kneife die Augen fest zusammen. "Kannst du aufstehen? Wir müssen zu Anne, sie kann dir vielleicht helfen!" Mit Mühe und Not kann ich mit dem Kopf schütteln. Kurzerhand schlingt Niall einen Arm um meine Taille und hebt mich schwerfällig hoch. Für Harry wäre das ein Klacks, aber Niall wiegt nicht viel mehr als ich selbst. "Niall, es... es tut s-so weh", wimmere ich und kralle mich an sein Shirt. - "Ich weiß, Lou. Dir wird es gleich besser gehen, hörst du?" Ich bekomme den Weg zu Annes Hütte nicht einmal mit. Erst als Niall mich plötzlich irgendwo absetzt und eine warme Hand auf meiner Stirn liegt, öffne ich schwach meine Augen. "Anne", hauche ich. Meine Hände sind nach wie vor fest gegen meine Brust gepresst, "e-er ist weg." - "Ich weiß. Er hat mir etwas für dich da gelassen", sagt sie mit ruhiger Stimme und drückt mir sogleich einen großen Teddybär in die Hand. Selbst durch meine verschwommene Sicht erkenne ich ihn. Es ist der Bär, den Robin für Harry genäht hat. Das Kuscheltier, das Harry seit seiner Kindheit bei sich hatte. Schniefend drücke ich das Stoffknäuel gegen meine Brust und vergrabe meine Nase darin. Es riecht staubig, doch weitaus mehr nach Harry. Meinem Harry.

Nach einigen Atemzügen wird der Schmerz in meiner Brust besser. Er ist nicht weg, aber es ist aushaltbar. "Harry war heute Morgen bei mir und hat mir den Bär gegeben. Ich habe ihm angesehen, dass er weg muss. Den Grund wollte er mir nicht sagen, er meinte nur, dass ich auf dich aufpassen soll", erklärt sie leise und kniet sich neben die Couch, auf der ich liege. "Wann kommt er zurück?", frage ich leise. - "Ich weiß es nicht, Louis."

Ich überlege einen Moment, ehe mein Blick zu Niall schnellt, der unsicher im Türrahmen steht. "Ist Liam mitgegangen?", frage ich und erhalte ein Nicken als Antwort. - "Er ist auch weg. Und..." Niall stockt. Er scheint zu überlegen, ob er weiterreden soll, doch als er ein leichtes Nicken von Anne erhält, holt er tief Luft und kommt näher zu mir. "Die Hälfte des Rudels ist dabei. Alle Betas. Die Gammas haben sich an den Reviergrenzen positioniert, damit kein Fremder zu uns gelangt." Mit jedem Wort steigt die Angst in mir. Das Druckgefühl in meiner Brust kehrt zurück und mein Atem wird unregelmäßiger. "H-harry", keuche ich schmerzerfüllt, ehe ein lauter Schrei aus meiner Kehle gelangt. Die Stimmen um mich herum erklingen wie durch Watte. Kein einziges Wort verstehe ich und doch spüre ich die Panik, die darin steckt. Die Panik, die in mir selbst zu noch mehr Angst führt. Meine Finger krallen sich in den weichen Stoff des Teddybärs und meine Augen zucken angsterfüllt hin und her, ohne dass ich etwas erkennen kann.

Bevor ich jedoch vollends abdriften kann, spüre ich plötzlich eine Flüssigkeit in meinem Mund. Es schmeckt bitter und abscheulich, weshalb ich es schnell schlucke und zu husten beginne. Irgendwer streicht mir beruhigend über den Rücken. "Versuche ruhig zu atmen, Louis, dann wird es gleich besser", sagt Anne leise und drückt mich schließlich eng an sich. Erleichtert nehme ich wahr, wie die Schmerzen abebben und auch meine Sicht wieder klarer wird. "Was ist passiert?", flüstere ich angsterfüllt. - "Ich weiß es nicht. Aber Harry ist nicht ohne Plan losgezogen, er weiß genau, dass er dich nicht im Stich lassen kann. Er wird zurückkommen, hörst du?" Auch wenn Anne offensichtlich versucht, mir gut zuzureden, höre ich die Angst in ihrer Stimme. Für alle Anderen wäre es vermutlich nicht zu erkennen, doch für mich schon. Vielleicht wäre ich genau in solchen Momenten ungern ein Omega. Ich sitze hier, habe Schmerzen und spüre die Angst, die sich von den anderen Rudelmitgliedern auf mich überträgt. Besonders nervös macht mich Nialls Nägelkauen. Ununterbrochen knabbert er an seinen Fingern herum und räuspert sich ständig, als wolle er etwas sagen, doch er bleibt stumm. Und obwohl niemand außer den beiden bei mir ist, spüre ich die Unruhe, die draußen herrscht.

Little white truths - L.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt