Im "Moby Dick"

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Marco



Es dauert nur eine viertel Stunde, dann stehen wir vorm ‚Moby Dick', Thatchs ganzem Stolz. Zugegeben, ich bin doch ziemlich gespannt, was er von Sina hält - er ist zwar ein sehr offenherziger, geselliger Mensch, doch auch ein guter Menschenkenner. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass die beiden sich gut vertragen werden; mit Shanks kommt sie ja auch wunderbar zurecht... also ist ihre Toleranzgrenze für spezielle Persönlichkeiten und Chaoten wohl sehr hoch. Zum Glück, denn von dieser Sorte hab ich in meinem Familien- und Freundeskreis noch einige mehr im Petto – ein Gedanke, der mich schmunzeln lässt. Aber grade dieser speziellen Persönlichkeit hier lasse ich garantiert nicht alles einfach so durchgehen...
„Würdest du drinnen noch einen Moment bei den Kleiderständern warten? Ich möchte mich bei ihm für die Brezen... ‚bedanken', bevor ich dich vorstelle, ist das okay?", frage ich mit einem finsteren Lächeln und kremple mir demonstrativ die Ärmel hoch. Ich werde ihr wohl einen kleinen Eindruck von Randale-Marco gönnen... denn diese peinliche Herzgeschichte lasse ich sicher nicht unkommentiert! Sina zieht beide Augenbrauen nach oben und grinst dann.
„Kein Problem... lass dich nicht aufhalten!"

Wir betreten gemeinsam das Lokal, doch sie bleibt wie versprochen am Eingang stehen und sieht sich beeindruckt um, was ich absolut verstehen kann. Es sieht aus wie im Inneren eines Schiffes - alles ist aus hellem Holz, die größeren Tische und Stühle sehen aus wie geteilte Ruderboote, während die Zweiertische Fässer mit Barhockern sind. An den Wänden hängen nachgebildete Säbel, Schwerter und Enterhaken an Fischernetzen. Es gibt sogar eine kleine Bühne, hinter der eine gewaltige Piratenflagge hängt. Es ist erst kurz vor fünf, wir sind die ersten Gäste, noch ist nichts los. Nicht mal seine beiden Kellnerinnen sind zu sehen.
Betont ruhig gehe ich in Richtung Küche, bleibe jedoch davor stehen.
„Thatch?", rufe ich laut und prompt schießt er auch schon aus der Tür.
„Marco! Und? Wie liefs? Hast du einen Dankeskuss für meine Kreation bekommen?", posaunt er fröhlich grinsend heraus. Doch das vergeht ihm schnell, als ich auf ihn zuspringe und ihn augenblicklich in den Schwitzkasten nehme.
Mit einem Fluch versucht er mir in die Seite zu boxen, doch ich klemme ihn zwischen Wand und meinem Körper ein, sodass er kaum ausholen kann. Ineinander verkeilt ringen wir wie zwei zu groß geratene Schuljungen miteinander.

„Wenn ich dich um Brezen bitte, will ich keine verdammten HERZEN, yoi?!", knurre ich, doch Thatch schnaubt nur.
„Irgendjemand muss doch ein bisschen Romantik in dein Spießerleben bringen, du verklemmter Vogel!", grollt er angriffslustig zurück. Unser Gerangel endet jedoch abrupt, als heiteres Gelächter von der Tür erklingt. Schwer atmend lasse ich ihn los und sehe grinsend zu Sina, die uns mit größtem Vergnügen beobachtet hat.
Thatch schnauft empört, dann jedoch weiten sich seine Augen, als er ihre rötlichen Locken und mein Grinsen sieht.
„Thatch, das ist Sina. Sina, das ist mein verrückter bester Freund!", stelle ich die beiden einander trotzdem vor. Schlagartig strahlt der Koch begeistert, ignoriert Sinas freundlich ausgestreckte Hand und umarmt sie direkt herzlich. Und auch ziemlich kräftig, so geräuschvoll, wie ihr die Luft entweicht.
„Oi, wie schön dich kennenzulernen! Wirklich!" Er schiebt sie ein Stück von sich weg und betrachtet sie tatsächlich wie ein Kind, das eine übergroße Zuckerstange in den Händen hält.
Sie grinst und reibt sich ihre gequetschten Rippen.
„Freut mich auch, Thatch! Dein Lokal sieht echt beeindruckend aus, wirklich cool!"

Stolz grinst er und stemmt die Arme in die Hüften.
„Ja, oder? Ist ein Andenken an Pops' Schiff, mit dem er als junger Mann unterwegs war!", erklärt er zufrieden, weshalb Sina mir jedoch einen fragenden Blick zuwirft.
„Pops?"
Thatch starrt mich entrüstet an.
„Sag bloß, du hast ihr noch nichts von Pops erzählt?" Beschwichtigend hebe ich die Hände.
„Hey, eins nach dem anderen! Das hier ist unser zweites privates Treffen, wann hätte ich ihr alles erzählen sollen?" Ich drehe mich lächelnd zu meiner hübschen Begleitung um. „Ich hab dir doch von meinem Vater erzählt, Edward Newgate. So nennt ihn nur keiner, eigentlich sagen alle ‚Pops' zu ihm. Oder eben Vater", erkläre ich ihr und sie nickt verstehend. Doch dann weiten sich ihre Augen als sie wieder zu Thatch sieht.
„Also bist du auch...?" Er nickt mit einem breiten Grinsen.
„Jep, auch eins seiner zahlreichen Kinder! Marco und ich haben uns im Waisenhaus kennengelernt! Aber was stehen wir hier noch rum? Setzt euch! Habt ihr Hunger? Ich zaubere euch was wirklich Gutes!"

Brüderlich legt er uns beiden einen Arm um die Schulter und bugsiert uns zu einem etwas abgelegenen Tisch in der Nähe der Küche.
„Das klingt wunderbar!", bestätigt Sina vergnügt und setzt sich mir gegenüber hin. Thatch wuselt beschwingt zur Theke und besorgt uns erst mal drei frisch gezapfte Guinness. Ich blinzle ihr entschuldigend zu, doch sie zwinkert nur und hält uns ihr Glas hin.
Gemeinsam stoßen wir an.
„Auf unser neues Familienmitglied! Sofern Marco es nicht versaut!", ruft Thatch feixend und weicht meinem Schwinger gekonnt aus, jault jedoch auf, als mein Tritt ihn trifft. Sina prustet und verschluckt sich fast an ihrem Bier.
„Seid ihr immer so zärtlich zueinander?", fragt sie belustigt und ich schnaube.
„Das IST zärtlich, du hättest uns als Teenager erleben sollen, yoi?", erwidere ich mit einem Blick zu Thatch. Der lächelt erinnerungsseelig.
„Oi, das waren Zeiten... ich war schon zwei Jahre länger in Pops' Heim, als dieser kleine Irre kam. Ich glaub es gab keinen Tag, an dem kein Blut geflossen ist, oder?"
Ich lache unterdrückt.
„Selten. Und wenns kein Blut war, dann diverse Prellungen, Zerrungen, Schrammen, blaue Flecken, Beulen oder blaue Augen!", bestätige ich und muss gleich darauf lachen, weil Sina uns ansieht wie zwei ausgebrochene Geisteskranke. Was ich ihr absolut nicht übelnehmen kann.

In diesem Moment betreten zwei Frauen den Laden.
„Hey Thatch! Entschuldige die Verspätung!", ruft die hübsche Grünhaarige, während die etwas ältere, nicht minder attraktive Frau mit den kurzen schwarzen Haaren mich bereits entdeckt hat.
„Hallo Marco, wen hast du denn da dabei?", fragt sie und kommt lächelnd auf uns zu. Thatch winkt die beiden heran.
„Makino, Shacky - das ist Sina. Marcos Date!", stellt er sie hörbar begeistert vor und klopft ihr übermütig kräftig auf den Rücken. Sina wird etwas rot um die Nase, reicht den beiden aber freundlich die Hand.
„Was - DATE? Wirklich?! Oh, das freut mich ja so für euch!", ruft Makino sichtlich begeistert und lächelt mich breit an. Die beiden arbeiten schon seit Jahren für Thatch und sind längst gute Freundinnen für uns geworden, weshalb ich doch ein wenig stolz zurücklächle.
„Also, dann machen wir uns mal an die Arbeit! Sina, hast du einen Wunsch? Was darf ich dir zaubern?", fragt mein bester Freund und steht auf. Sie grinst.
„Überrasch mich, ich bin nicht wählerisch. Ich mag nur keine Kapern und keinen Ingwer. Ansonsten bin ich pflegeleicht!", erwidert sie vergnügt, was Thatch ausgesprochen freut. Mich fragt er erst gar nicht, er kennt mich ja.
„Euer Wunsch sei mir Befehl, Mylady!" Mit einer eleganten Verbeugung geht er zurück in die Küche, während sich die beiden Frauen schwarze Schürzen und Bauchtaschen anlegen und sich um die ersten soeben eintreffenden Gäste kümmern.

„Er ist toll!"
Erfreut sehe ich Sina an, die mich breit anlächelt.
„Allerdings. Er ist ein unglaublicher Mensch!", bestätige ich aufrichtig.
„Wie seid ihr Freunde geworden, wenn ihr euch doch dauern geprügelt habt? Ihr habt euch doch nicht aus Vergnügen verletzt, oder?", will sie zweifelnd wissen, doch ich lache unbekümmert.
„Gott, nein... so masochistisch veranlagt sind wir wirklich nicht!" Ich nehme einen Schluck von dem Bier, dann erzähle ich ihr die Geschichte.
„Ich hab dir ja schon gesagt, dass ich wütend auf die ganze Welt war - meine Verlegung in ein Heim für Schwererziehbare hat das nicht besser gemacht. Thatch war ja schon länger dort, und... aus irgendeinem unerfindlichen Grund mochte er mich. Ich wollte zu der Zeit aber nicht gemocht werden, also bin ich bei jedem seiner Annäherungsversuche auf ihn los gegangen - und er hat einfach munter mitgedroschen. Während ich ihn verflucht hab, hat er gelacht!" Sie kichert, vermutlich fällt es ihr nicht schwer, sich das bei Thatchs sorglosem Gemüt vorzustellen. „Mit der Zeit hab ich unsere Auseinandersetzungen aber wirklich genossen... es tat gut jemanden zu haben, an dem ich meine Gefühle rauslassen konnte, yoi? Irgendwann hab ich angefangen mit ihm zu reden, wenn wir fix und fertig nebeneinander gelegen haben. Erst über unsere Prügelei, dann Smalltalk... und irgendwann auch über wichtigere Themen. Ich hab angefangen, diesen Verrückten wirklich zu mögen. Und dann...", ich seufze schwer. „...dann gab es einen Unfall!"

Aufmerksam hört Sina mir zu, wendet keine Sekunde den Blick ab. Sie spürt wohl, dass nun etwas Wichtiges kommt. Und das tut es auch... es ist der Wendepunkt in meinem Leben gewesen.
„Bei einer unserer Raufereien waren wir zu wild und zu unvorsichtig. Und zu nah an einer Treppe. Thatch ist meinem Hieb ausgewichen, hat plötzlich das Gleichgewicht verloren und ist runtergefallen. Zu allem Unglück hing unten auch noch ein bodenlanges Bild, dessen Glasrahmen bei seinem Aufprall zu Bruch ging, sodass die Scherben ihn geschnitten haben... Gott, ich hab das halbe Haus zusammengebrüllt, bin hinterher und hab versucht, seine Blutungen zu stoppen. Der Krankenwagen kam und hat ihn mitgenommen, ich bin ihm unerlaubterweise zu Fuß durch die halbe Stadt nachgelaufen. Und weil ich nicht reindurfte, saß ich draußen vor dem Krankenhaus auf dem Boden und hab gewartet".
Mitfühlend sieht sie mich an.
„Das muss schrecklich gewesen sein...", vermutet sie leise. Ich nicke und drehe gedankenverloren mein Guinness zwischen den Fingern.
„Allerdings... ich hab mich richtig, richtig mies gefühlt und mir die Schuld an seinem Unfall gegeben. Irgendwann hat Pops mich dann dort sitzend gefunden. Ich hab bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel mit ihm zu tun gehabt, aber da ist er extra zu mir gekommen und hat sich neben mich auf den Boden gesetzt. Ich hab ihm gestanden, dass es meine Schuld gewesen sei und ich dumm gewesen bin. Er hat aber nur gelacht und erwidert, dass es einfach nur ein Fehler gewesen ist... und Fehler menschlich sind. Dumm ist nur, wer nichts draus lernt. Und dann hat er einen Arm um mich gelegt... und ich begann zu heulen. Keine Ahnung wie lang, aber Pops blieb bei mir sitzen, bis nichts mehr kam und alles aus mir draußen war, was sich über die Jahre aufgestaut hatte. Danach haben wir lange geredet... mein allererstes Vater-Sohn-Gespräch. Als wir dann endlich zu Thatch durften, war ich ein neuer Mensch... zumindest hat es sich so angefühlt", beende ich die Geschichte lächelnd.

Sina hat mir schweigend zugehört und betrachtet nun stumm ihre Hände. Überrascht bemerke ich eine tiefe, erschöpfende Traurigkeit in ihren Augen. Besorgt berühre ich ihre Finger, was sie aus ihren Gedanken reißt. Sofort ist der traurige Ausdruck verschwunden und sie lächelt.
„Das ist eine schöne Geschichte! Auch wenn der arme Thatch dafür leiden musste...", schmunzelt sie. „Hat es ihn schlimm erwischt?"
„Ach, der ist hart im Nehmen, yoi? Er hatte ein gebrochenes Handgelenk, eine Gehirnerschütterung und mehrere Prellungen, außerdem einen tiefen Schnitt im Gesicht. Daher hat er diese Narbe! Und er hat sich fürchterlich darüber aufgeregt, dass er ne Weile im Krankenhaus bleiben musste..."
„...zu Recht! Es war scheiße langweilig und das Essen dort ein Desaster!", tönt Thatch gut gelaunt dazwischen. Mit einem breiten Grinsen stellt er zwei köstlich duftende Teller vor uns.
„Schaschlik Spieße und Tomatenreis! Oh, Wahnsinn... das sieht lecker aus, danke Thatch!", ruft Sina begeistert, was den Koch zum Grinsen bringt.
„Lasst es euch schmecken!", erwidert er und verschwindet mit einem Zwinkern zu mir zurück in die Küche. Kurz herrscht Stille zwischen uns, während wir essen.

„Habt ihr danach aufgehört zu kämpfen?", will sie auf einmal lächelnd wissen. Offensichtlich beschäftigt sie diese Geschichte sehr. Ich schnaufe belustigt.
„Wie du vorhin sehen konntest, nein. Pops hat uns aber zum Kickboxen angemeldet, damit wir uns kontrollierter austoben konnten. Wir machen das bis heute regelmäßig! Hätte Thatch nicht seine Leidenschaft fürs Kochen entdeckt und ich meinen starken Wunsch, anderen in ähnlichen Situationen zu helfen, wären wir wohl Martial-Arts-Kämpfer geworden!" Und das meine ich sogar ernst. Sie lacht ungläubig.
„Du hast bestimmt noch ne Menge mehr verrückte Geschichten, richtig?"
„So viele wie ich Brüder habe... mal hundert", bestätige ich schmunzelnd.
„Und wie viele hast du?"
„Von denen, die mir wirklich nahestehen, sind es sechzehn. Natürlich gibt es noch mehr, aber das ist so der härteste Kern um Pops... oder die, die am meisten an ihm hängen. Wir treffen uns auch noch regelmäßig. Hast... du denn Geschwister?", frage ich vorsichtig.

„Einen Bruder...", antwortet sie leise. „Und theoretisch einen Adoptivbruder, aber der ist ein echtes Arschloch, also zähle ich den nicht!" Sie spießt das nächste Stück Fleisch derart heftig auf die Gabel, als hätte es sie persönlich beleidigt. Stirnrunzelnd behalte ich sie im Auge.
„Und dein richtiger Bruder? Was ist mit ihm? Weiß er, dass du hier bist?", hake ich leise nach, und da ist sie wieder, diese Traurigkeit in ihrem Blick.
„Nein. Er hat... er ist schon fast drei Jahre vor mir von unseren Eltern weggegangen. Im Streit. Ich weiß nicht, wo er mittlerweile lebt... ich hab auch nicht das Recht, ihn zu suchen. Was ich damals zu ihm gesagt habe, ist unentschuldbar. Ich hoffe einfach, dass es ihm gut geht und er nun glücklich ist", flüstert sie tonlos. Bevor ich jedoch auch nur zucken kann, schüttelt sie den Kopf und atmet durch. „Lass uns über was anderes reden, ja?"

Missmutig sehe ich sie an. Selbst ohne entsprechendes Studium ist es offensichtlich, dass dieses Thema wie ein giftiger Stachel in ihrer Seele steckt. Doch vermutlich ist das wirklich nicht der beste Ort, um darüber zu reden. Also komme ich ihrem Wunsch nach und wir reden über andere Themen. Sie fragt mich über mein Studium aus, danach bleiben wir bei Vorlieben und Ängsten hängen. Sina prustet laut, als ich ihr von meiner heftigen Abneigung gegen Clowns und Pantomimen erzähle. Schnaubend bewerfe ich sie mit meiner Serviette.
„Hey! Die sind mir nun mal nicht geheuer, und da bin ich nicht der Einzige! Was ist mit dir - wovor hast du Angst?"

Unbehaglich sieht sie auf den Tisch.
„Marionetten... und allgemein Puppen", antwortet sie dann leise. Ich kann sehen, wie sie erschaudert, doch sie überspielt es erneut geschickt und lächelt schief. „Und Horrorfilme. Ich hab eine viel zu ausgeprägte Fantasie, danach kann ich nächtelang nicht schlafen!" Mit wachsamer Miene sehe ich sie an. Mich überkommt das deutliche Gefühl, dass hinter ihrer Angst vor den Marionetten mehr steckt, als irrationale Gedanken... ich beschließe, das im Hinterkopf zu behalten und gehe wie sicherlich von ihr gewollt auf das Letztgenannte ein.
„Zu deinem Glück mag ich dieses Genre auch nicht, wobei es bei mir mehr daran scheitert, dass ich lieber Filme mit Handlung und Tiefgang sehe. Horror ist mir ehrlich gesagt zu stumpf, yoi?", erwidere ich leichthin, ehe mir eine neue Frage einfällt. Neugierig sehe ich sie an. „Was hältst du von..."
„...kein Sex vor der Ehe?", grätscht plötzlich Thatch dazwischen und grinst Sina breit an.
„THATCH!" Böse sehe ich ihn an, doch sie lacht nur und scheint damit kein Problem zu haben.

„Für mich ein totales No-Go", antwortet sie sogar noch völlig gelassen darauf, was ihn sichtlich begeistert. Und mir natürlich auch gefällt...
„Na wunderbar, ganz meine Meinung! Man muss schließlich wissen, worauf man sich einlässt, stimmts?", gibt er ihr zuzwinkernd zurück, was sie glucksen lässt.
„Klar. Sex gehört doch zu einer Beziehung dazu, und wenn man da nicht harmoniert, wirds schwierig, oder?" Verschmitzt grinsend verputzt sie das letzte Körnchen Reis und – leckt ein bisschen zu langsam und genüsslich ihre Gabel ab. Amen.
Thatchs Grinsen reicht von einem Ohr zum anderen, während er sich lässig an unseren Tisch lehnt.
„Drum prüfe, wer sich womöglich ewig bindet, was? Erzähl mal, Liebes: was wäre denn dein worst-case-Typ im Bett?", fragt er völlig ungeniert weiter, während mir langsam die Hitze ins Gesicht steigt. Wie offensiv kann man fragen?! Aber ich kann nicht leugnen, dass mich die Antwort brennend interessiert.

Sie wirft mir einen kurzen, schelmischen Blick zu, während sie überlegt.
„Hmm... also absolut grauenhaft wäre Typ Blümchensex: schüchtern, sanft und leise und am Ende noch immer dasselbe im Dunkeln... bäh! Wie stehts mit dir?" Jetzt sieht sie tatsächlich MICH mit einem regelrecht herausfordernden Grinsen an. Ich hätte sie wirklich nicht für so offen und unkompliziert bei diesem Thema gehalten - das überrascht mich nun doch. Aber... ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mir nicht gefallen würde. Genau wie ihre Antwort.
„Da schließe ich mich doch glatt an, yoi? Abwechslung muss sein... und wie soll man ohne Licht den Körper seines Partners bewundern...?", erwidere ich mit einem etwas anrüchigen Schmunzeln.
Sina sieht mich mit funkelnden Augen an.
„Mhm... meine Rede..."
„Und wie! Marco, ich mag die Kleine - gute Wahl!", lacht Thatch und klopft ihr kräftig auf die Schulter. „Wollt ihr noch was trinken?"
Ich sehe auf die Uhr, es ist fast zehn.
„Wenn wir Shanks morgen nicht allein arbeiten lassen wollen, sollten wir langsam gehen. Bringst du mir die R..."
„Willst du Prügel?", unterbricht er mich trocken und ich hebe abwehrend die Hände. Ich wollte ja nur höflich sein. Sina kichert und steht auf.

„Vielen Dank für das wundervolle Essen! Es war wirklich schön, dich kennenzulernen!", sagt sie aufrichtig. Thatch lächelt breit und drückt sie nochmal herzlich.
„Gern geschehen! Und die Freude war ganz meinerseits!" Er lässt sie los und umarmt mich ebenfalls.
„Schnapp sie dir! Die ist klasse!", raunt er mir ins Ohr. Ich lächle erleichtert - es ist mir wirklich wichtig, was er von ihr hält. Sein Urteilsvermögen ist wohl in mancher Hinsicht besser als meins, denn mit Celine ist er all die Jahre nicht richtig warm geworden. Wir sind schon fast am Ausgang, da macht Sina plötzlich nochmal kehrt und küsst Thatch auf die Wange.
„Das war für dein charmantes Gebäck. Vielen Dank dafür!", lacht sie und schließt sich mir wieder an. Er kichert ungläubig und gestikuliert mir nochmals, sie mir zu schnappen.
Grinsend verabschieden wir uns auch von Shacky und Makino, dann machen wir uns auf den Weg zurück.

„Diesmal fahr ich dich aber wirklich heim!", bestimme ich resolut, um diese Uhrzeit lasse ich sie ganz sicher nicht mit dem Bus fahren. Sie lächelt mich an.
„Einverstanden. Vielen Dank für diesen wundervollen Tag! Und danke, dass du mir Thatch vorgestellt hast..."
Mir wird warm ums Herz, als ich ihr Lächeln erwidere.
„Gerne! Es freut mich wirklich, dass ihr euch so gut versteht!"
„Er macht es einem aber auch ziemlich leicht - wie kann man ihn nicht mögen?" Sie seufzt. Es klingt ein kleines bisschen wehmütig. „So einen guten Freund zu haben ist unbezahlbar..."

Ich verstehe, was sie eigentlich sagen will. Sina ist allein hier, und ob sie in England eine gute Freundin oder Freund gehabt hat, ist mehr als fraglich.
Sie beneidet mich um Thatch.
Mir fällt nur nichts ein, womit ich sie aufmuntern könnte. Außer...
in der Hoffnung, nicht zu weit zu gehen, lege ich sanft einen Arm um sie. Überrascht sieht sie zu mir hoch, doch dann lächelt sie und schmiegt sich an mich.
Den Rest des Weges legen wir in einträchtigem Schweigen zurück. Keine Ahnung, wessen Herz dabei schneller schlägt.

*****

„Das ist es, wir sind da!"
Sofort setze ich den Blinker und parke am Straßenrand. Die Fahrt zu dem kleinen, efeubewachsenen Häuschen mit den zwei Etagen, der orangenen Tür und dem kleinen Garten hat nicht besonders lang gedauert. Es sieht malerisch, aber wirklich klein aus. Sina bemerkt meinen Blick und grinst.
„Für mich reichts, aber jemand wie du bekäme da drin vielleicht auf Dauer ein bisschen Platzangst..."
Ich erwidere ihr Grinsen verschmitzt.
„Also nur für Leute mit Zwergenwuchs geeignet?", necke ich sie frech, und so empört, wie sie nun die Backen aufbläst, kann ich nicht anders als in haltloses Gelächter auszubrechen. Sina schnauft entrüstet, doch dann wendet sie sich ab und seufzt enttäuscht.
„Ach man... jetzt wollte ich mich für diesen schönen Tag gerade mit einem Kuss bedanken, und du ruinierst die Stimmung und lachst mich aus..."
Schlagartig verebbt mein Lachen, während sich mein Herzschlag verdreifacht und mir das Blut ins Gesicht schießt. Ein Kuss...?!
„Sina, ich... es...", stammle ich unbeholfen und räuspere mich überfordert. Doch da dreht sie sich auch schon zu mir und ich sehe in funkelnde, grüne Augen und ein triumphierendes Lächeln. Sie hat mich veräppelt!

Schnaubend verschränke ich die Arme vor der Brust, während sie nun diejenige ist, die kichert.
„Das war ziemlich hinterhältig!", werfe ich ihr grollend vor und sie verstummt. Stattdessen sieht sie mich mit eigenartig glänzenden Augen lange an.
„Möchtest du denn einen?", fragt sie leise und lässt mich erneut erstarren. Schweigend suche ich nach Hinweisen für einen Scherz, doch dieses Mal ist es ihr tatsächlich ernst... Sie fragt mich wirklich, ob ich sie küssen will!
Lange überlegen muss ich nicht. Mein Atem fällt flach, als ich mangels Stimme lediglich ein Nicken zustande bringe.
Ich kann sehen, wie sie nervös einatmet und sich abschnallt. Dann hebt sie langsam ihre Hand, legt sie an meine Wange und dirigiert mich sanft zu ihr. Unser Atem vermischt sich. Ein letzter, intensiver Blick... dann treffen unsere Lippen aufeinander.
Ganz sanft.
Diese erste, zarte Berührung lässt mich erschaudern. Wie lang ist es her, seit ich eine Frau so nahe an mich herangelassen habe?
Langsam und liebkosend bewegen sich unsere Münder aneinander, mehr ein Streicheln als ein Kuss - aber doch so wunderschön und verheißungsvoll. Ich will mehr davon... mehr von ihr.
Ich bin auf dem besten Weg, mich Hals über Kopf in sie zu...
Doch im selben Augenblick, in dem dieser Gedanke Gestalt annimmt, steigt Angst in mir hoch.

Mein Innerstes gefriert zu Eis, ich erinnere mich wieder an diesen Schmerz von damals... das Gefühl, hintergangen und verstoßen zu werden, weil ich mein Herz in fremde Hände gelegt habe. Panik durchzuckt mich wie ein Stromstoß.
Mit einem Keuchen weiche ich ruckartig zurück und fahre mir mit der Hand durchs Gesicht. Mein Herz rast, kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn. Ich tue mein Bestes, um mich wieder zu fangen, doch ich kann die schmerzhaften Gedanken nicht abschütteln.
„Verdammt... Sina... du... solltest besser gehen", stoße ich gepresst hervor und versuche weiterhin mühsam, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Sina zuckt erschrocken zurück und sieht mich betroffen an.
„Marco, ich... ich... es... tut mir leid! Das wollte ich nicht", stammelt sie reumütig, greift hastig ihre Tasche und flüchtet regelrecht aus dem Auto, bevor ich auch nur ein weiteres Wort sagen kann.
Die kühle Luft und die zuschlagende Autotür holen mich endgültig ins Hier und Jetzt zurück.
Entsetzt sehe ich ihr nach, wie sie zur Haustür läuft, hektisch den Schlüssel ins Türschloss rammt und nach drinnen verschwindet.
Die bittere Erkenntnis rinnt wie Eis durch meine Adern.

Ich habe gerade Sina weggeschickt.

Das war SINA und nicht Celine!! Gottverdammt, was hab ich getan?! Wut steigt in mir hoch; Wut auf mich selbst und meine Unfähigkeit, die Vergangenheit loszulassen.
Mit einem zornigen Schrei schlage ich mit der Faust so fest gegen mein Armaturenbrett, dass ein Teil des Lüftungsgitters anknackst und sich der Schmerz bis hoch in den Ellbogen zieht.
Schwer atmend lehne ich mich zurück und verfluche mich im Stillen, als mein Handy auf einmal vibriert. Unwillig sehe ich aufs Display... und noch nie war ich so dankbar für Thatchs Neugierde.
Ich hebe ab.
Na endlich - und?! Wie ist es noch gelaufen? Die Kleine ist ja sowas von..."
„Ich habs verkackt!", unterbreche ich seinen begeisterten Redeschwall heiser. Sofort ist es still in der Leitung.
Was ist passiert?", fragt er ernst. Zittrig hole ich Luft.
„Ich... wir haben uns geküsst. Es war unglaublich schön, aber... auf einmal musste ich wieder an damals denken. Ich hab Panik bekommen und sie mehr oder weniger aus dem Auto geworfen!", berichte ich schonungslos bitter.

Thatch murmelt einen derben Fluch, doch er gilt nicht mir. Dann seufzt er frustriert.
Fahr heim, in einer Stunde bin ich bei dir. Und bis dahin steck nicht den Kopf in den Sand, ja? Das kriegen wir hin!" Das bezweifle ich zwar, aber seine Worte sind trotzdem tröstend.
„Danke Thatch... bis gleich!"
Mit einem tiefen Seufzen lege ich auf und werfe einen letzten, enttäuschten Blick auf das kleine Haus. Noch immer brennt in keinem Fenster Licht. Sitzt Sina da jetzt etwa im Dunkeln? Der Gedanke schmerzt fürchterlich.
Mit einem Gefühl, als läge mir der ganze Everest auf der Brust, starte ich den Wagen und mache mich auf den Heimweg.



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