Marco
Als ich eine halbe Stunde später meine Haustüre aufschließe, hab ich immer noch ein Lächeln im Gesicht. Ha, der Abend ist weitaus besser verlaufen, als ich zu hoffen gewagt habe! Wir haben uns nicht nur ausgesprochen, ich hab sie auch noch ohne erneute Panikattacke küssen können! Und WIE ich sie küssen konnte... noch immer kann ich sie schmecken, erinnere mich kristallklar an ihre sanften, weichen Lippen und höre das überforderte, leise Keuchen bei unserem letzten Intermezzo. Hart stoße ich meinen Atem aus, während ich Jacke und Schuhe ausziehe.
Puh, wenn ich heute noch schlafen will, sollte ich besser nicht mehr zu viel darüber nachdenken.
Im Wohnzimmer angekommen schalte ich das Licht ein und muss dabei unwillkürlich schmunzeln, als ich an ihre winzige Wohnung denke. Irgendwie passt diese etwas alt wirkende, aber gemütlich eingerichtete, kompakte Zwergenhöhle zwar zu ihr, aber ich fühle mich mit ein wenig mehr Beinfreiheit eindeutig wohler.
Noch bevor ich mich auf meine riesige weiße Couch fallen lasse, hab ich Thatchs Nummer gewählt. Er nimmt nach dem ersten Klingeln ab.
„Naaaa du Casanova? Schon daheim? War aber 'n kurzer Versöhnungssex!", zieht er mich direkt auf. Schnaubend verziehe ich das Gesicht.
„So weit sind wir noch nicht, du Perverser!" Doch er lacht nur unbekümmert.
„Wieso nicht? Die Kleine scheint diesbezüglich doch nicht sehr konservativ zu sein! Oder... hast DU vielleicht Bedenken?", fragt er plötzlich ernster. Ich seufze ertappt.
„Hm... möglich. Es ist ein paar Jahre her seit meinem letzten Mal... und ich hab keine Lust DABEI eine Panikattacke zu erleiden, yoi? Wobei ich denke, dass das eine einmalige Sache war. Diesmal konnte ich sie zumindest ohne jeden Zweifel küssen...", antworte ich mit hörbarer Zufriedenheit in der Stimme, die ihm einen begeisterten Ausruf entlockt.
„Ohooo, na immerhin! Und? Wie war deine erste Knutscherei nach so langer Zeit?"
Auch wenn Thatch versucht, es witzig zu verpacken, höre ich dennoch sein aufrichtiges Interesse. Er fragt das eindeutig nicht aus Sensationslust... und das lässt mich lächeln.
„Einfach unglaublich, mein Freund!", seufze ich glücklich, ehe mein Lächeln triumphierend wird. „Und verlernt hab ich auch nichts!"
Er lacht befreit auf.
„Siehst du? Ist alles wie Fahrrad fahren, das verlernt man nicht!" Kurz ist es still in der Leitung; ich höre das leise Klirren von Gläsern im Hintergrund und vermute, dass mein Bruder die guten Nachrichten mit einem starken Sake feiern will. „Wie geht's denn jetzt weiter mit euch? Seid ihr schon so richtig fest zusammen?"
„Nein... ich... denke noch nicht? Samstag ist unser drittes Date, vielleicht danach? Ich weiß ja auch noch nicht, ob sie auch schon bereit dafür ist oder noch Zeit braucht. Ich bin nämlich nicht der Einzige, der ein Päckchen zu tragen hat... Sie muss erst mal auch MIR vertrauen, yoi?", gebe ich zu, was Thatch aufhorchen lässt.
„Was meinst du damit? Hat die Kleine Probleme?"
Ich kann es ihm nicht verübeln, dass er nach all den Lügen und Intrigen von Celine ein klein wenig misstrauisch klingt. Doch viel deutlicher höre ich doch Besorgnis heraus - er hat sie offenbar tatsächlich schon ins Herz geschlossen.
„Ja... scheint leider so. Sie hat mir noch nicht viel erzählt, aber sie kommt wohl aus einer ziemlich gefühllosen, oberflächlichen Familie, die sie zur Verlobung gezwungen hat. Vor ihr und diesem Verlobten ist sie in einer Nacht- und Nebelaktion hier her geflohen... und einen Bruder hat sie auch, mit dem sie sich wohl schlimm zerstritten hat", erzähle ich ihm frei heraus. Ich habe Sina letztes Mal im Lokal extra gefragt, ob ich mit Thatch über alles reden darf oder es lieber für mich behalten soll - und sie hat nichts dagegen, solange es nicht noch weitergetragen wird.
Der Koch grollt etwas Unwirsches.
„Geflohen? Dein Ernst? Oi, das klingt ja verdammt scheiße... meinst du, sie steckt noch immer irgendwie in Schwierigkeiten?"
Ja, genau das ist der Punkt, der mir Sorgen macht. Aber gut, dass es auch für Thatch besorgniserregend klingt und ich in diesem Punkt nicht überempfindlich bin.
„Schwer zu sagen, solange sie mir nicht alles erzählt hat. Ich hab aber schon das Gefühl, dass Sina noch Angst vor ihnen hat... ich meine, wenn man heimlich einen Job lernt, über Nacht dann ganz allein aus dem Elternhaus in ein völlig anderes Land flüchtet und sogar seinen Namen ändert, klingt das für mich ehrlich gesagt ziemlich bedenklich, yoi?", antworte ich finster und lasse unwillkürlich meine Knöchel knacken. Ich zumindest werde mein Möglichstes tun, um zu verhindern, dass ihr nochmal jemand aus dieser Sippschaft zu nahekommt. Thatch grummelt unwirsch.
„Allerdings, das klingt ja fast schon nach ner richtigen Gangstergeschichte... Ich würde ja sagen, behalt sie im Auge, aber das tust du ja bestimmt auch so, stimmts?" Oh, und wie ich das tun werde! Da kennt er mich gut. „Hey, andere Frage... wann willst du den anderen von ihr erzählen? Ich meine Pops und dem Rest der Irren. Und..." Thatch zögert einen Augenblick. „...wirst du dich mit Izou aussprechen?"
Ich seufze sehr, sehr tief und fasse mir überfordert mit zwei Fingern an die Nasenwurzel. DAS ist eine extrem komplizierte Frage.
„Thatch, ich... hab noch keine Ahnung. Im Augenblick bleibt Sina bitte noch unser kleines Geheimnis, zumindest so lange, bis wir tatsächlich zusammen sind. Falls wir es wirklich bis dahin schaffen... dann stelle ich sie Vater und den anderen natürlich vor, yoi? Und was Izou angeht..." Ich stocke kurz, und das schlechte Gewissen steigt wie Galle in mir hoch. „...ich weiß es wirklich nicht. An Vaters Geburtstag in ein paar Wochen sehe ich ihn ja wieder, und dann... mal sehen", antworte ich ausweichend. Thatch schweigt, ich kann seine Missbilligung aber spüren. Doch ich bin ihm dankbar, dass er mich nicht drängt. Das ist eine Baustelle, die mir schon ewig auf der Seele lastet... und von der ich nicht weiß, wie ich sie endlich beheben kann. Zumindest ist Sina nicht die Einzige von uns, die sich mit einem Bruder zerstritten hat...
„Na gut... du musst es wissen. Na, dann hau ich mich mal hin. Sehen wir uns nächste Woche Samstag im Pub? Vielleicht bringst du ja die Kleine mit, Rayleigh und Ace werden sie mögen!"
„Sofern sie Lust hat, klar! Also dann, ich hau mich jetzt aufs Ohr. Wir hören uns, yoi? Nacht!"
„Nacht! Und hey, Commander? Lass es übermorgen ruhig mal wieder ordentlich krachen, viel Spaß!" Mit einem Lachen legt er auf. Ich schmunzle bei meinem familieninternen Spitznamen, doch mein Herzschlag beschleunigt sich vorfreudig, als meine Gedanken zum kommenden Samstag wandern.
Ich freu mich drauf... und bin gespannt drauf, was passieren wird.
******
Als ich am nächsten Morgen bei der Praxis ankomme und endlich wieder den gelben Käfer dort stehen sehe, schleicht sich ein breites Lächeln in mein Gesicht. Sofort wird der Tag um einiges schöner.
Drinnen duftet es auch endlich wieder nach Kaffee und auch das Radio läuft – kaum zu glauben wie schnell und wie sehr man solche winzigen Dinge vermissen kann.
„Guten Morgen, Sina!", begrüße ich meinen kupferhaarigen Wirbelwind gut gelaunt. Die Angesprochene dreht sich mit einem strahlenden Lächeln um und kommt auf mich zu. Mein Herzschlag beschleunigt sich bedenklich als sie mich sanft am Nacken zu sich hinunterzieht und mich statt einer Erwiderung direkt in einen zärtlichen Kuss verwickelt. Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass ich unseren Größenunterschied wirklich liebe?
„Guten Morgen, Marco...", antwortet sie verspätet und gibt mich wieder frei.
„Also daran könnt ich mich gewöhnen, yoi?", schmunzle ich erheitert. Sie grinst verschmitzt und reicht mir meine bereitstehende Kaffeetasse.
„Nicht so vorschnell, wenigstens das dritte Date sollten wir vor solchen Gewohnheiten noch erfolgreich meistern. Meinst du nicht?"
„Hast du etwa Zweifel daran?", will ich ernst wissen und nehme zufrieden einen großen Schluck des Muntermachers. Lächelnd tut sie es mir gleich.
„Kaum. Aber wer weiß? Vielleicht kommen morgen noch seltsam abschreckende Gewohnheiten zum Vorschein?", erwidert sie mit einem spitzbübischen Grinsen, was mich allerdings an ein bestimmtes Lied erinnert.
„Keine Sorge. Erst wenn ich dich sicher habe, mutiere ich zu King Kong, yoi?", gebe ich deshalb trocken zurück und bin gespannt, ob sie die Anspielung versteht. Kurz blinzelt sie verdutzt, dann lacht sie jedoch laut auf.
„Männer sind Schweine, hm? Na, gut zu wissen, womit ich rechnen muss... aber eins sag ich dir gleich, mein Freund: wenn du anfängst im Bett zu rülpsen und zu furzen, ersticke ich dich eigenhändig mit meinem Kissen!"
Schnaubend pruste ich in meinen Kaffee.
„Hey! Sollte vor den Todesdrohungen nicht erst die rosarote Brille kommen?", grinse ich, doch sie schüttelt entschieden den Kopf.
„Nein, in diesem Fall ist es besser, die Fronten direkt zu klären! Dabei gibt es keinerlei Spielraum, so rosa kann die Brille gar nicht sein!", erklärt sie entschieden.
In diesem Moment klimpert ein Schlüssel an der Eingangstür. Erstaunt sehen wir uns an und dann auf die Uhr - erst viertel nach sieben.
„Guten Morgen Shanks!", ruft Sina laut, und tatsächlich kommt der Rothaarige gut gelaunt ins Büro.
„Guten Morgen ihr Turteltäubchen! Na? Alles fit im Schritt?", fragt er strahlend, was mich die Augen verdrehen lässt. Jetzt nur nichts Auffälliges tun - zum Glück stehen Sina und ich in züchtigem Abstand zueinander und halten unsere Kaffeebecher in den Händen. Wobei erstere gerade in meine Richtung kommt, um ihm ebenfalls einen Kaffee einzuschenken.
„Alles bestens, aber was ist bei dir kaputt, dass du um diese gottlose Uhrzeit hier bist?", zitiere ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Shanks seufzt höchst leidend.
„Mein Auto... Ben hat mich hergebracht. Und der ist zu gewissenhaft, um zu meiner Uhrzeit loszufahren. Ich hab euch doch nicht etwa gestört?" Die gespielte Unschuld in seinem Ton kaufe ich ihm nicht ab, dafür ist sein Blick viel zu lauernd. Oh, oh...
„Nein hast du nicht, denn wenn du uns zügellos rumknutschen sehen willst, musst du leider NOCH früher kommen!", erwidert Sina so übertrieben verrucht, dass ich mit einem Blick auf Shanks ungläubiges Gesicht erneut in meine fast leere Tasse pruste.
„Verdammt... tut mir leid Süße, aber so gern ich das auch sehen würde - meine Zeit im Bett ist mir wichtiger!", witzelt er grinsend, als er sich wieder gefangen hat. Ich atme innerlich auf. Doch Shanks ist noch nicht fertig. „He, wollen wir drei morgen nicht zusammen zu Rayleighs gehen? Wir könnten dich unseren Freunden vorstellen, Kleine. Ist ein verrückter Haufen, aber sie werden dich lieben!"
Ich schüttle sofort entschieden den Kopf.
„Die Zwei-Wochen-Abstands-Regel, Shanks! Ich war letztes Wochenende mit euch dort, dieses lasse ich ruhig angehen", erkläre ich fest, und das ist nicht mal gelogen – nicht, dass ich meinen Freunden überdrüssig wäre, aber ich hänge an meiner Leber. Der Rothaarige verdreht die Augen, sieht dann aber Sina erwartungsvoll an. Schafft sie es auch, ihm glaubhaft abzusagen?
Sie lächelt entschuldigend und reibt sich verlegen an der Nase.
„Das ist echt lieb von dir, ich würde sie wirklich gern kennenlernen! Aber können wir das auf nächstes Wochenende verschieben? Ich... also ich hab morgen ein Date..." Er zieht überrascht die Augenbrauen hoch und wirft einen kurzen Blick zu mir. Ich meine, Enttäuschung darin zu sehen... doch mein Gesicht bleibt ausdruckslos. Innerlich lobe ich sie für ihren Einfall; Angriff ist wohl die beste Verteidigung. Mit einem wehmütigen Seufzen fährt er sich durchs Haar, lächelt dann aber.
„Das freut mich für dich! Auch wenn ich nicht gern für einen anderen Mann versetzt werde... ist er's denn auch wert?" Ein ehrliches Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Oh ja... er ist wirklich ein toller Mensch. Wir liegen ziemlich auf einer Wellenlänge und... in seiner Nähe fühle ich mich so wohl wie noch nie zuvor..."
Wärme flutet durch meinen Körper. Ihr fast schon verträumter Tonfall ist nämlich absolut nicht geheuchelt. Deshalb vermeidet sie grade auch jeden Blickkontakt mit mir und wird leicht rot um die Nase. Shanks lacht leise und klopft ihr gutmütig auf die Schulter.
„Na, dann wünsch ich dir viel Spaß morgen! Pass aber trotzdem auf dich auf; und wenn er dir das Herz bricht, brech' ich ihm die Knochen!", erwidert er geradezu väterlich und meint es völlig ernst. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht; obwohl sich Shanks meist laut, unbekümmert und respektlos gibt, steckt doch jede Menge Weisheit, eine gewaltige Charakterstärke und ein großes Herz in ihm. Die eine Seite kann mich gelegentlich nerven, aber dafür schätze und bewundere ich seine andere umso mehr - nicht umsonst zählt er zu meinen engsten und verlässlichsten Freunden.
Und genau deshalb zeigen mir seine Worte nun auch, dass er Sina aufrichtig gernhat.
„Danke, Shanks! Ich hoffe nicht, dass das nötig sein wird...", entgegnet Sina und kann sich ein Kichern nicht verkneifen. Auch ich schmunzle verhalten bei der Vorstellung, wie der Rothaarige auf mich losgehen will. Das wäre sicherlich interessant, denn Shanks macht nicht nur regelmäßig Krafttraining, sondern ist auch ein Meister im Iaido, also japanischer Schwertkunst. Trotz meiner Jahrzehntelangen Übung im Kickboxen, wäre er mir also mindestens ebenbürtig... und möglicherweise sogar überlegen.
Shanks grinst und schnappt sich seine Akten.
„Na gut, dann begebe ich mich mal an meinen Arbeitsplatz... bis später!" Mit einem letzten Zwinkern verlässt er das Büro.
Ich stelle meinen leeren Becher in die Spüle und versichere mich kurz, dass er auch wirklich in seinem Zimmer verschwunden ist. Dann kann ich einfach nicht widerstehen und ziehe Sina noch einmal kurz an mich.
„Du fühlst dich also wohl bei mir?", raune ich ihr liebevoll zu, während meine Lippen hauchzart über ihre Wange streichen. Sie erschaudert und schenkt mir ein verschmitztes Lächeln.
„Ist das nicht offensichtlich?"
Ich schmunzle.
„Es zu hören ist aber schöner als es nur zu hoffen...", entgegne ich. Ganz kurz verschließen sich unsere Lippen. „Morgen um acht hol ich dich ab, ja?"
Sina seufzt.
„Ich freu mich drauf... aber jetzt scheren Sie sich weg, Doktor Newgate! Die Arbeit ruft!"
Ein Schmunzeln huscht über mein Gesicht. Wieso klingt das aus ihrem Mund so verheißungsvoll? Ich könnte mich wirklich daran gewöhnen...
„Na gut, dann an die Arbeit, Miss Gates!"
Nach einem letzten Lächeln schnappe ich mir meine Akten. Mit dem schönen Gefühl, dass es gar nicht schnell genug Samstag werden kann, mache ich mich auf den Weg in mein Sprechzimmer.
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Trust in Me
FanfictionReallife - Nach einer katastrophalen Beziehung hat Marco das Interesse am weiblichen Geschlecht verloren. Zumindest, bis er nach seinem Urlaub eine neue Arzthelferin in seiner Praxis vorfindet. Sofort weckt der kupferhaarige Wirbelwind sein Interess...