Ein Versprechen

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Marco (Teil 1)

Wir sitzen nun schon seit einer halben Stunde in einem meiner Lieblingsrestaurants, doch ich kann noch immer kaum glauben, dass ich hier gerade wirklich ein echtes Date mit dieser bezaubernden Frau habe! Beziehungsweise bin ich auch noch immer völlig überrascht von mir selbst, dass ich sie überhaupt darum gebeten habe - und sie sich auch noch ohne lange zu zögern darauf eingelassen hat. Normalerweise bin ich eher durchgeplant und zurückhaltend statt spontan und kurzentschlossen; aber alles in mir hat sich vorhin dagegen gewehrt, sie einfach gehen zu lassen. Keine Ahnung, wo dieser plötzliche Wagemut hergekommen ist, aber ich bin wirklich verdammt froh drum!
Nun sitzen wir in meinem liebsten, kleinen und urgemütlichen Fischlokal, während ich Sina verstohlen dabei beobachte, wie sie die Speisekarte studiert und dabei an ihrem Wasser mit Zitrone und Eiswürfeln nippt. Getränketechnisch haben wir eindeutig denselben Geschmack. Ich bin schon sehr gespannt, was wir noch gemeinsam haben.

„Ich kann mich nicht entscheiden... hast du einen heißen Tipp?", reißt sie mich aus meinen Gedanken und legt seufzend die Karte auf den Tisch. Schmunzelnd blättere ich zwei Seiten um und tippe mit meinem Finger auf ein Gericht.
„Das ist meine Lieblingssuppe, die schmeckt hier wirklich ausgezeichnet, yoi?", antworte ich sofort und ihre Miene hellt sich auf.
„Ah, danke! Dann versuche ich die!"
Wir geben unsere Bestellung bei einem der Kellner ab. Sie nimmt noch einen Schluck Wasser und sieht lächelnd zu mir, was mein Herz automatisch schneller schlagen lässt.
„Darf ich fragen ob du hier geboren bist?", stellt sie auch schon neugierig die erste Frage. Ich kann nicht leugnen, dass mich ihr Interesse an mir wirklich freut.
„Nein, ich komm aus Deutschland. Hierher bin ich mit dreizehn gekommen", antworte ich und beobachte vergnügt ihr überraschtes Gesicht.
„Ehrlich? Woher genau? Und wieso bist du ausgewandert? Wegen deinen Eltern?", sprudelt sie sichtlich interessiert hervor. Ich lehne mich ein wenig zurück und lächle verhalten - ich bin gespannt auf ihre Reaktion.

„Nein... meine leiblichen Eltern habe ich nie kennengelernt, ich bin im Waisenhaus groß geworden. Und weil ich da zunehmend Krawall geschlagen hab und sie mich nicht in den Griff bekommen haben, wurde ich in ein Heim für Schwererziehbare gesteckt - von der Edward-Newgate-Stiftung, diese Einrichtungen gibt es in ganz Europa. Und dort hab ich den Gründer selbst getroffen, Edward Newgate. Er... ist ein unglaublicher Mensch. Er hat mich so akzeptiert wie ich war, er veränderte meine Sicht der Dinge und hat mich schlussendlich sogar adoptiert. Dank ihm hab ich meinen Abschluss geschafft und sogar Abitur gemacht mit anschließendem Studium. Er ist mein Vater geworden, der beste, den ich mir hätte wünschen können...", beende ich meine Erzählung mit einem überaus warmen Lächeln, lasse Sina jedoch keinen Moment aus den Augen.
Ich werde nicht enttäuscht. Sie sieht mich so fassungslos an, dass ich leise lachen muss.
„DU warst... schwer erziehbar?", wiederholt sie ungläubig und ich kann buchstäblich sehen, wie sie verzweifelt versucht sich einen jungen Randale-Marco vorzustellen. Und gnadenlos scheitert. Ohje, wenn sie wüsste!
„Und wie. Ich war ein richtiger Unruhestifter, bin ständig ausgerissen, hab mich geprügelt und randaliert. Ich hab niemanden an mich rangelassen... weil ich mich ungewollt und ungeliebt gefühlt hab. Weil die Welt mich scheinbar verstoßen hatte, verstieß ich die Welt ebenfalls, yoi?", erkläre ich ihr nachdenklich. Sie sieht mich unverwandt an, dann lächelt sie plötzlich sehr sanft.

„...deshalb bist du Kinder- und Jugendpsychiater geworden. Weil du weißt, wie es ist, wenn man niemanden hat oder verzweifelt ist", vermutet sie goldrichtig.
„Genau. Ich weiß, dass sich helfen zu lassen und jemandem zu vertrauen der schwerste Schritt ist, gerade bei Jugendlichen. Aber auch bei Erwachsenen", füge ich gleich doppelt bedeutungsvoll hinzu, weil das ja offenbar auf uns beide zuzutreffen scheint. Sina seufzt leise und beißt sich schuldbewusst auf ihre Lippen.
„Ich weiß, aber...", beginnt sie abwehrend, doch dann sieht sie mir in die Augen. Als ob sie etwas Bestimmtes in ihnen suchen würde. Unser Essen wird serviert, doch keiner von uns unterbricht den Blickkontakt, ich bedanke mich lediglich kurz. Schließlich sieht sie doch weg und widmet sich ihrer Suppe. Ein wenig enttäuscht seufze ich leise.
„Ich habe zwar Eltern, aber nur im biologischen Sinne", fängt sie plötzlich doch an zu erzählen und ich verschütte fast mein Wasser vor Schreck. Erstaunt sehe ich sie an, doch ihr Blick ist fest auf die Tischdecke gepinnt.

„Viel besser hatte ich es deshalb auf jeden Fall nicht... Ich als Person war ihnen nie wichtig, es hat sie nicht interessiert was ich gern mochte oder was ich hasste, es war ihnen nicht mal wichtig, wie ich mich fühlte. Das einzig Bedeutsame an mir war mein hübsches Aussehen und meine Folgsamkeit. Ich war ein Vorzeigeobjekt und solange ich brav und gefügig das tat, was sie von mir verlangten, überschütteten sie mich mit Geschenken und Lob. Aber wehe, ich verhielt mich nicht Regelkonform, dann zeigten sie mir die kalte Schulter und straften mich mit Missachtung, was mich immer furchtbar verletzt hat. Und... ich tat fast alles, um ihre Schein-Liebe zu erhalten. Du warst aggressiv - ich überangepasst. Bis vor einigen Monaten war ich in meinem eigenen Leben nichts als eine Schauspielerin, die in einem verhassten Stück mitspielt, weil ein Knebelvertrag sie dazu zwingt..."
Ihre Stimme klingt so verloren und leer, dass ich sie am liebsten in meine Arme gezogen hätte, doch ich reiße mich zusammen. Es tut mir unendlich leid, was sie über ihr Leben erzählt... und gleichzeitig verrät mir die Art, WIE sie es erzählt auch, dass sie vorhin die Wahrheit gesagt hat: es klingt, als hätte sie all das schon einmal im Rahmen einer Therapie erzählt, was mich gleichzeitig erleichtert wie beunruhigt. Es ist gut, dass sie sich offenbar schon in der Vergangenheit Hilfe gesucht hat, aber... auch wenn ich mich hier täuschen kann, weil ich sie ja wirklich noch nicht lange kenne... ich habe die Befürchtung, dass es wesentlich mehr braucht, um einen so optimistischen, positiven Charakter wie Sina dazu zu bringen, Hilfe anzunehmen. Ich hoffe wirklich, dass ich mir irre...

Aufmerksam höre ich ihr weiter zu, auch wenn sie meinen Blicken nach wie vor ausweicht.
„Die einzige Ausnahme von diesem Schauspiel war mein Aufenthalt in Deutschland als Studentin. Da konnte ich zum ersten Mal ein bisschen ich selbst sein... und leben. Aber selbst das war ja eigentlich nur ein Vorwand, um von England wegzukommen. Ich wollte überhaupt nie studieren. Ich habs getan um... um...", sie ringt so offensichtlich mit sich, dass ich nun unweigerlich doch nach ihrer Hand greife. Es fällt mir wirklich schwer, meine Professionalität hier zu wahren - Sina ist keine meiner Patientinnen, dementsprechend versetzt mir ihre Geschichte einen sehr schmerzhaften Stich ins Herz. Durch meine Berührung scheint sie immerhin wieder Mut zu fassen. Sie atmet tief durch und umfasst meine Hand.
„Ich hab das Studium begonnen, um meinem Verlobten zu entkommen", vollendet sie ihren Satz und mir entgleisen kurz die Gesichtszüge. Verlobter?! Entkommen? Heilige Scheiße, damit hab ich nun wirklich nicht gerechnet. Nun sieht sie mich doch an, fast schon ängstlich.

„Es war eine arrangierte Verlobung, ich hätte das freiwillig nie gemacht! Der Typ war ein arroganter Mistkerl, ein Intrigant und ein oberflächlicher Schnösel. Das war auch der Wendepunkt, nie hätte ich so jemanden heiraten können. Aber mich von all dem loszusagen, den Mut zu finden, mich ganz allein durchzuschlagen... das hab ich nicht über Nacht geschafft. Deshalb habe ich das Studium vorgeschoben. Weg aus dem Einflussbereich meiner sogenannten Familie hab ich an meinem Selbstbewusstsein gearbeitet und mit Hilfe einer wirklich lieben Psychologin nebenher heimlich meinen eigentlichen Wunschberuf zu erlernen - Arzthelferin. Das klingt vielleicht komisch, aber... Ärzte zu unterstützen, den Alltag organisieren und mich außerhalb des Sprechzimmers um Patienten zu kümmern hat mir schon immer gelegen. Ich hab also insgeheim Geld gespart und mir eine Bleibe hier in Dublin gesucht, wo ich mein neues Leben beginnen wollte. Ich hab sogar meinen Namen geändert. Und als ich das geschafft hatte... bin ich nach Hause zurückgekehrt, hab ich die Verlobung aufgelöst, meinen Eltern gesagt, dass ich sie nie wieder sehen will und bin in einer Nacht- und Nebelaktion einfach abgehauen. Ziemlich feige eigentlich... aber mehr war nicht drin."

Ihr Blick liegt noch immer bei mir, unverändert bang, sie wartet ganz offensichtlich auf ein Urteil meinerseits. Und ich kann nicht leugnen, dass mich ihre Geschichte kalt erwischt hat - nie hätte ich gedacht, dass hinter ihrem sonnigen Gemüt so eine destruktive Familiengeschichte steckt. Außerdem mache ich mir direkt Sorgen, ob die Sache mit ihrer Familie damit wirklich abgeschlossen ist... wenn sie so viel Angst vor ihnen hat, dass sie sogar ihren Namen ändert und außer Landes flieht, klingt das wie aus einem klischeehaften Hollywoodstreifen. Einer, der für sie allerdings bittere Realität ist. Der Gedanke, dass sie vielleicht noch in Schwierigkeiten sein könnte, weckt in mir den starken Drang, sie beschützen zu wollen. Sanft streiche ich mit meinem Daumen über ihren Handrücken, mein Mund verzieht sich zu einem warmen Lächeln.
„Danke, dass du mir das erzählt hast! Ich kann mir vorstellen, wie schwer das gewesen sein muss... wobei ich nicht gedacht hätte, dass du mir schon so sehr vertraust, um mir das alles zu erzählen...", gestehe ich aufrichtig und lasse ihre Hand dann ein wenig zögerlich los, damit Sina endlich essen kann.

Ihre Wangen färben sich rot bei meinen Worten und sie seufzt erleichtert, doch ihr Blick bleibt ernst.
„Ich will dich nicht anlügen: das war nicht die ganze Geschichte. Nur eine abgespeckte Version davon, ganz so mutig bin ich leider doch nicht. Aber vielleicht... schaffst du es ja irgendwann, dass ich dir alles erzählen kann! Du bist der erste, mit dem ich rein privat überhaupt schon so viel darüber reden konnte. Und eben nicht, weil du ein Psychiater bist!", betont sie Letzteres mit einem leichten Schmunzeln.
Ich schenke ihr ein schiefes Lächeln.
„Ist das eine Herausforderung?"
„Allerdings, Herr Doktor!"
Soso...

Ich lehne mich so weit es geht über den Tisch, durchbohre ihr gebanntes Gesicht mit einem entschlossenen Blick.
„Dann verspreche ich dir hiermit, dass ich alles tun werde, um dein volles Vertrauen zu gewinnen, Sina!", raune ich ihr aufrichtig zu und umfasse erneut kurz ihre Hand. Ihre Augen weiten sich, sie sieht mich bodenlos überrascht an. Doch dann beginnt sie zu lächeln, so strahlend und warm wie die Sonne.

„Ich nehme dich beim Wort, Marco!"






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